Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei
In: Jean Paul (1763 – 1825), Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F.St.Siebenkäs, 8.Kapitel, Erstes Blumenstück
Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen
im Traume wieder Flügel und Schimmer an und spielen wie
Johanniswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrückt uns diese
flatternden Funken nicht! - Lasset uns sogar die dunkeln peinlichen
Träume als hebende Halbschatten der Wirklichkeit! - Und womit will man
uns die Träume ersetzen, die uns aus dem untern Getöse des Wasserfalls
wegtragen in die stille Höhe der Kindheit, wo der Strom des Lebens noch
in seiner kleinen Ebene schweigend und als ein Spiegel des Himmels
seinen Abgründen entgegenzog? -
Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und
entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die
abrollenden Räder der Turmuhr, die eilf Uhr schlug, hatten mich erweckt.
Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte,
eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren
aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter
unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die
niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. In
den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing
in großen Falten bloß ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte
wie ein Netz immer näher, enger und heißer herein zog. Über mir hört'
ich den fernen Fall der Lauwinen, unter mir den ersten Tritt eines
unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei
unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr miteinander kämpften und vergeblich
zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren
Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei
und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende
Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei Gift-Hecken
zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten,
denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. - Alle Schatten standen um
den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust.
Nur ein Toter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf
seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden
Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger
hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam
ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der
schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände
empor und faltete sie zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich
und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am
Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl
erschien und das sein eigner Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte
darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.
Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus
der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist
kein Gott?«
Er antwortete: »Es ist keiner.«
Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.
Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen
und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist
kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und
schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte
nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde
Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem
Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen
Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren
bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und
zernagte es und wiederkäuete sich. - Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet
die Schatten; denn Er ist nicht!«
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost
gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen,
schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker
erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am
Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?« - Und er antwortete
mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne
Vater.«
Da kreischten die Mißtöne heftiger - die zitternden Tempelmauern rückten
auseinander - und der Tempel und die Kinder sanken unter - und die
ganze Erde und die Sonne sanken nach - und das ganze Weltgebäude sank
mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei - und oben am Gipfel der
unermeßlichen Natur stand Christus und schauete in das mit tausend
Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige
Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die
Milchstraßen wie Silberadern gehen.
Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der
himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und
als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf
das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter
auf die Wellenstreuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen
empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte:
»Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger
Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und
mich? - Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das
Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere
auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne aus-blinkt, indem du
vorübergehest? - Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des
Alles! Ich bin nur neben mir - O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche
Brust, daß ich an ihr ruhe? - Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und
Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?.....
Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der
Seufzer der Natur oder nur sein Echo - ein Hohlspiegel wirft seine
Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und
dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. - Schaue hinunter in den
Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen - Nebel voll Welten steigen
aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die
Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?«
Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er
sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt'
ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen
in den unermeßlichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein
linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn
aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz!‹... Ach ihr
überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet
jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen
auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend
Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel hinauf: ›auch mich kennst du,
Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich
und schließest sie alle.‹ ... Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden
sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in
die Erde legt, um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und
Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der
ewigen Mitternacht - und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand
und kein unendlicher Vater! - Sterblicher neben mir, wenn du noch
lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.«...
... als ich erwachte. Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte - und
die Freude und das Wei-nen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und
als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen
Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem
kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen
dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre
kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von
der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen
Abendglocken.
Fußnote: Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, dass in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstöret wären, so würd ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und - er würde mich heilen und meine Gefühle wiederbeleben.