Sonntag, 29. Dezember 2013

Mit der Freude...


Johann Peter Hebel

Neujahrslied

Mit der Freude zieht der Schmerz
Traulich durch die Zeiten,
Schwere Stürme, milde Weste,
Bange Sorgen, frohe Feste
Wandeln sich zur Seiten.

Und wo eine Träne fällt,
Blüht auch eine Rose.
Schön gemischt, noch eh wir’s bitten,
Ist für Thronen und für Hütten
Schmerz und Lust im Lose.
War’s nicht so im alten Jahr?
Wird’s im neuen enden?
Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken gehn und kommen wieder,
Und kein Wunsch wird’s wenden.
Gebe denn, der über uns
Wägt mit rechter Waage,
Jedem Sinn für seine Freuden,
Jedem Mut für seine Leiden
In die neuen Tage,
Jedem auf des Lebens Pfad
Einen Freund zur Seite,
Ein zufriedenes Gemüte,
Und zu stiller Herzensgüte
Hoffnung ins Geleite!
*******

Johann Peter Hebel, am 10.5.1760 in Basel geboren, 22.9.1826 in Schwetzingen gestorben, Theologe und Lehrer, gilt bis heute als der bedeutendste alemannische Dichter. Weit bekannt sind auch seine Kalendergeschichten. Erschienen im Klöpfer&Meyer Verlag, Tübingen.

Samstag, 21. Dezember 2013

Und so leuchtet die Welt

Lied im Advent

Immer ein Lichtlein mehr
im Kranz, den wir gewunden,
dass er leuchte uns sehr
durch die dunklen Stunden.

Zwei und drei und dann vier !
Rund um den Kranz welch ein Schimmer,
und so leuchten auch wir,
und so leuchtet das Zimmer.

Und so leuchtet die Welt
langsam der Weihnacht entgegen.
Und der in Händen sie hält,
weiß um den Segen !

Matthias Claudius (1740 - 1815)

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Schweizer Märchen



Die Erlösung

Ein Jäger schritt durch einen dunkeln Wald und geriet unversehens so tief in das Dickicht hinein, dass er nicht mehr wusste, ob es Tag- oder Nachtzeit war. Da sah er eine bleiche Nebelgestalt daher kommen, die winkte ihm und streckte ihm ihre weisse Hand entgegen. Erst war der Jäger erschrocken und meinte nichts anderes, als dass es ihm an das Leben gehen müsste. Aber bald fasste er wieder Mut, und es war ihm, als dürfe er die dargebotene Hand nicht zurückweisen. Wie er also keck die zarte Hand ergriff, war es wie wenn er lauter Eiszapfen anrührte, und im gleichen Augenblick standen die Bäume ringsumher in Feuer; Schlangen zischten auf, und das Geheul der Wölfe und anderer reissender Tiere erschallte ganz in der Nähe.
Aber der Jäger hielt nur umso kräftiger die kalte Hand fest und wankte um keinen Schritt von der Stelle. Bald war es auch wieder stille und dunkel wie vorher. Da kam ein graues Männlein und winkte dem Jäger auf die Seite; es trug an seinem Arm ein Körbchen, das von hellem Diamant und bis zu oberst mit glitzerndem Gold angefüllt war; das gab zusammen einen so hellen Schein wie die Sonne. Aber der Jäger hielt noch immer die Hand fest und blieb unbeweglich stehen. Da sprang plötzlich ein Wolf vorbei, der hatte ein Kind im Rachen, das der Jäger mit Schrecken als seins erkannte.
Aber er lief ihm nicht nach, denn es war ihm, als täte er eine rechte Sünde, wenn er die Hand fahren liesse. Als nun der Wolf verschwunden war, da wurde die kalte Hand mit einemmal warm und lebendig und in der bleichen Gestalt erblickte der Jäger eine liebliche Jungfrau. Die lächelte ihn an und sprach: »Du hast mich aus einem schweren Bann erlöst, und weil du so treulich hast ausgehalten, so sollst du belohnt werden.« Sie reichte ihm ein Körbchen, und das war das Nämliche, womit ihn das graue Männchen hatte verführen wollen. Das leuchtete dem Jäger aus dem finstern Wald heraus, und von da an war er ein reicher Mann und lebte glücklich und vergnügt bis an sein Ende.

aus: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, gesammelt von Otto Sutermeister, neu bearbeitet von Fritz Gafner, Friedrich Reinhard Verlag Basel. 

Freitag, 6. Dezember 2013

Großes Owe

Walther von der Vogelweide

WEHE, es wird sich ein Sturm erheben... 


WEHE, warum haben wir sterblichen Menschen uns zwischen Freuden ins Elend gesetzt! Alle Mühsal hatten wir vergessen, als uns der Sommer zu sich lud. Der brachte uns vergängliche Blumen und Laub; uns täuschte das ebenso vergängliche Lied der Vögel.
Wohl dem, der sich stets um beständige Freuden mühte!

WEHE DES LIEDES, das wir mit den Grillen sangen, derweilen wir uns auf die Winterzeit hätten vorbereiten sollen. Ach, wir einfältigen Narren, weshalb traten wir nicht mit der Ameise in Wettstreit, die jetzt höchst zufrieden neben dem liegt, was sie sich erarbeitet hat. Seit je hat die Menschheit am meisten darunter gelitten, daß die Toren immer den Rat der Weisen schmähten. Erst im Jenseits erkennt man, wer hier auf Erden gelogen hat.

Montag, 25. November 2013

Vergnügtes Tauschen




Nikolaus Lenau


Herbst

Rings ein Verstummen, ein Entfärben:
wie sanft den Wald die Lüfte streicheln,
sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln;
ich liebe dieses milde Sterben.

Von hinnen geht die stille Reise,
die Zeit der Liebe ist verklungen,
die Vögel haben ausgesungen,
und dürre Blätter sinken leise.

Die Vögel zogen nach dem Süden,
aus dem Verfall des Laubes tauchen
die Nester, die nicht Schutz mehr brauchen,
die Blätter fallen stets, die müden.

In dieses Waldes leisem Rauschen
ist mir als hör' ich Kunde wehen,
dass alles Sterben und Vergehen
nur heimlich still vergnügtes Tauschen.

Sonntag, 17. November 2013

Luther über die Ehe

Martin Luther als Junker Joerg, 1522, Lukas Cranach d.Ä.

Gerade lese ich Luthers Frau Katharina von Bora, eine erzählende Biographie von Marianne Wintersteiner. Als nun Frau Wintersteiner meinte, Katharina von Bora wollte den Luther vielleicht auch deshalb heiraten, weil er doch über die Ehe geschrieben habe, und zwar sehr verständig, da wurde ich doch neugierig und griff nach der Schrift Martin Luthers Vom ehelichen Leben aus dem Jahre 1522. Luther ist auch in dieser Schrift nicht gerade zaghaft, aber ich kenne weder weltliches Recht noch kirchliches dieser Zeit gut genug, um das eine oder andere Urteilswort Luthers richtig einschätzen zu können. Außerdem hat mir das lutherische Eheverständnis grundsätzlich zugesagt, weil es viel Demut zeigt und zur Achtung des anderen mahnt. Ich zitiere hier einige Stellen, die an Aktualität nicht verloren haben:
Mir graut und ich predige nicht gern vom ehelichen Leben, deshalb, weil ich befürchte; wo ichs einmal recht anrühre, wirds mir und andern viel zu schaffen geben. Denn der Jammer ist durch das päpstliche verdammte Gesetz so schändlich verwirrt, dazu haben sich durch das nachlässige Regiment des geistlichen wie des weltlichen Schwerts so viel greuliche Mißbräuche und irrige Fälle darin begeben, dass ich nicht gern dreinsehe, noch gern davon höre... Doch die Schöpfungsordnung lehrt uns wie und wozu wir geschaffen worden sind: ... solch gutes Schöpfungswerk will geehrt und als sein göttlich Werk unverachtet (gehalten) haben, dass der Mann das Weibsbild nicht verachte noch verspotte, und umgekehrt (auch) das Weib den Mann nicht, sondern dass ein jeglicher des andern Bild und Leib als ein göttlich gut Werk ehre, das Gott selbst wohlgefällt. Einige freilich werden aus der Pflicht genommen, andere haben echte Scheidungsgründe und insofern das Recht auf Trennung. Aber die Klage und das ewige Geschrei gegen die Ehe ist Luther nichts als Teufelswerk, festgeschrieben in heidnischen Büchern.
Die Welt sagt von der Ehe: Eine kurze Freude und eine lange Unlust. Aber laß sie sagen, was sie will: was Gott schafft und haben will, das muß ihr ein Spott sein... Es ist ein völlig ander Ding: ehelich sein und (das Wesen des) ehelichen Lebens erkennen. Wer ehelich ist und (das Wesen des) ehelichen Lebens nicht erkennt, der kann nimmermehr ohne Unlust, Mühe und Jammer darinnen leben. Er muß klagen und lästern wie die Heiden und unvernünftigen, blinden Menschen. Wer aber erkennt, der hat ohn Unterlaß Lust, Liebe und Freude drinnen, wie Salomo Spr.18,22 sagt, daß "wer eine Ehefrau gefunden hat, der hat etwas Gutes gefunden" usw. 
So einfach hat sich das Martin Luther vorgestellt. Kein Wunder, könnte man sagen, er hat ja erst einige Jahre später geheiratet. 


Mittwoch, 13. November 2013

Epiphanie, sieben

James Joyce

Es ist jetzt Zeit zu gehen - das Frühstück steht bereit. Ich spreche noch ein Gebet... Ich habe Hunger; doch blieb ich gern noch hier in dieser stillen Kapelle, wo die Messe so still kam und ging ... Sei gegrüßt, heilige Königin, Mutter der Gnade, unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung! Morgen und alle Tage will ich dir zum Opfer etwas Tugendhaftes vollbringen, weiß ich doch, ich werde dir wohlgefällig sein, wenn ich es tue. Und nun, leb wohl für jetzt ... O, das wunderbare Sonnenlicht in der Allee, und o, das Sonnenlicht in meinem Herzen! 

James Joyce, Epiphanien (Kleine Schriften) edition suhrkamp, 1974. 

Donnerstag, 7. November 2013

Vorbereitungen zur Nacht

Seit einiger Zeit bin ich wieder unter den Anfängern des Glaubens. Nicht, weil man ständig zurückblicken soll, sondern nur, weil mich mein eigener Wahlspruch zurück zu den Quellen zum gründlichen Studium der Dunklen Nacht des Johannes vom Kreuz brachte. Jeder Kenner weiß, dass die Dunkle Nacht etwas für Fortgeschrittene ist, heute würden wir sagen: die Depression oder der Burn out der Gläubigen tritt ein. Diese Krise sieht Johannes vom Kreuz als notwendig an. Er erklärt mit welch mütterlicher Fürsorge Gott sein Kind entwöhnt, um es weiter voran zu bringen. Aus dem Anfängerstadium des Kinderglaubens ins Stadium der Fort- geschrittenen. Der erste Teil seiner Ausführungen handelt allein von den Unvoll-kommenheiten der Anfänger. Hier findet jeder das Seine. Ich zitiere nur einen Abschnitt, der mich besonders angesprochen hat. Warum wohl?

Das ganze Bemühen dieser Menschen ist darauf ausgerichtet, Schmackhaftes und Tröstliches für den Geist zu suchen; darum haben sie es nie satt, Bücher zu lesen. Einmal nehmen sie sich die eine Meditation vor, dann eine andere, und sie sind im Umgang mit den Dingen Gottes immer auf der Jagd nach Wohlgeschmack. Solchen Menschen verweigert Gott den Geschmack sehr zu Recht und auf diskrete und liebevolle Weise. Wenn er das nicht täte, würden sie durch diese geistliche Genußsucht und dieses Gelüsten Schlechtigkeiten ohne Zahl hineinwachsen. Darum ist es für diese Menschen sehr gut, daß sie in die dunkle Nacht eintreten, von der wir noch sprechen müssen, damit sie dort von all diesen Kindereien geläutert werden.


Samstag, 26. Oktober 2013

Goldener Herbst



Theodor Storm (1817 - 1888)

Oktoberlied

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!

Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!

Und wimmert auch einmal das Herz -
Stoß an und lass es klingen!
Wir wissen's doch, ein rechtes Herz
Ist gar nicht umzubringen.

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!

Wohl ist es Herbst; doch warte nur,
Doch warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
Es steht die Welt in Veilchen.

Die blauen Tage brechen an,
Und ehe sie verfließen,
Wir wollen sie, mein wackrer Freund,
Genießen, ja genießen!

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Norwegisches Märchen

Der Gertrudsvogel

Als unser Herr Christus und St. Petrus noch auf Erden einherwandelten, kamen sie einmal zu einer Frau, die bei ihrem Backtrog stand und den Teig knetete. Sie hieß Gertrud und hatte eine rothe Mütze auf. Da beide den Tag über schon weit gegangen und daher sehr hungrig waren, bat der Herr Christus die Frau um ein Stückchen Brod. Ja, das sollte er haben, sagte sie und nahm ein Stückchen Teig und knetete es aus; aber da ward es so groß, daß es den ganzen Backtrog anfüllte. Nein, das war allzu groß, das konnte er nicht bekommen. Sie nahm nun ein kleineres Stück; aber als sie es ausgeknetet hatte, war es ebenfalls zu groß geworden; das konnte er auch nicht bekommen. Das dritte Mal nahm sie ein ganz ganz kleines Stück; aber auch das Mal ward es wieder zu groß. »Ja, so kann ich Euch Nichts geben,« sagte Gertrud: »Ihr müsst daher ohne Mundschmack wieder fortgehen; denn das Brod wird ja immer zu groß.« Da ereiferte sich der Herr Christus und sprach: »Weil Du ein so schlechtes Herz hast und mir nicht einmal ein Stückchen Brod gönnst, so sollst Du zur Strafe dafür in einen Vogel verwandelt werden und Deine Nahrung zwischen Holz und Rinde suchen, und nicht öfter zu trinken sollst Du haben, als wenn es regnet.« Und kaum hatte er die Worte gesprochen, so war sie zum Gertrudsvogel verwandelt und flog oben zum Schornstein hinaus; und noch den heutigen Tag sieht man sie herumfliegen mit einer rothen Mütze auf dem Kopf und schwarz über dem ganzen Leib; denn der Ruß im Schornstin hatte sie geschwärzt. Sie hackt und bickt beständig in den Bäumen nach Essen und piept immer, wenn es regnen will; denn sie ist beständig durstig.


Peter Christen Asbjörnsen und Jörgen Moe, Norwegische Volksmährchen I-1847. Gedruckt bei Julius Sittenfeld in Berlin. Mit einem Vorwort von L.Tieck.

Samstag, 12. Oktober 2013

Evangelischer Buchpreis 2013

Jenny Erpenbeck erhielt für ihren Roman Aller Tage Abend in diesem Jahr den Evangelischen Buchpreis und man könnte denken, naja, sie hat ja auch andere Preise dafür bekommen, dann kann sie doch den Evangelischen Buchpreis noch dazu haben. Solche Sachen kommen ja vor. Doch nun, wo ich endlich die Zeit gefunden habe, diesen Roman zu lesen, stelle ich fest: dieser Preis ging verdientermaßen an JE und ihren wunderbaren Roman.
Aller Tage Abend bespricht viele Lebensthemen wie Liebe und Freundschaft, Bündnis und Verrat, Hingabe und Untreue, Heimat und Heimatverlust, Politik, Krieg und Verlust mit äußerster Sensibilität. Religiösität oder vielmehr die religiöse Dimension ist beinahe der rote Faden, der sich durchs Buch zieht. Man erkennt das nicht allein an den eingeflochtenen Bibelzitaten oder der jüdischen Herkunft oder katholischen Erziehung einzelner Helden. Warmherzig, tiefsinnig und humorvoll wird hier erzählt und bei all dem noch ein Experiment gewagt. Ich fand Jenny Erpenbeck schon früher gut, jetzt finde ich, sie ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen in der deutschen Gegenwartsliteratur.
Mit diesen Worten beginnt der Roman: Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, hatte die Großmutter am Rand der Grube zu ihr gesagt. Aber das stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war - auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde. Drei Handvoll Erde... Dreimal lässt die Erzählerin ihre Heldin sterben, doch dreimal auch wieder auferstehen. Vom Ende her wird hier erzählt. Gegen den Tod.   

Jenny Erpenbeck, 1967 in Ost-Berlin geboren, absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung als Buchbinderin und studierte Theaterwissenschaften. Neben der Regiearbeit an verschiedenen Theatern debütierte sie 1999 als Schriftstellerin mit der „Geschichte vom Alten Kind“. Ihre Prosa wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis und dem Heimo von Doderer-Literaturpreis, beide 2008 für den Roman „Heimsuchung“.

Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend, Knaus, 2013.

Sonntag, 6. Oktober 2013

Und doch ist einer ...

Rainer Maria Rilke

Herbst

Die Blätter fallen,
fallen wie von weit, 
als welkten in den Himmeln ferne Gärten; 
sie fallen mit verneinender Gebärde. 
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit 
Wir alle fallen. diese Hand da fällt
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.




Rainer Maria Rilke, Herbst, Insel Taschenbuch, Frankfurt 2012.

Freitag, 20. September 2013

Literarisch durchs Kirchenjahr

"Die Seele braucht Feste." Anselm Grün Und dieses Buch erzählt von eben diesen (einstmals) hohen kirchlichen Feiertagen. Ein anregender, "anstoßender" literarisch-religiöser Dialog. Dieses Buch wirbt, erzählend und meditierend, lyrisch und prosaisch um die Freundschaft zwischen Literatur und Theologie. Ja, gute Freundinnen könnten sie sein: die Literatur und die Theologie. Und tun, was gute Freundinnen gemeinhin tun: Hand in Hand Wege gehen, sich ermutigen und helfen, sich offen und auch selbstkritisch in Frage stellen, an den gleichen Problemen und Themen arbeiten, einander achten auch und das je eigene der anderen wertschätzen und zulassen.
»Vom Himmel auf Erden«: In diesem »literarischen Kirchenjahr« kommen 21 Autorinnen und Autoren (und der Herausgeber) zu Wort, die um die mögliche literarisch-theologische Freundschaft wissen. Mit mehr oder weniger Distanz zum Ecclesialen und Religiösen knüpfen sie an die theologischen Inszenierungen des (ökumenischen) Kirchenjahres an, holen sie schreibend den Himmel auf Erden: mal kritisch, mal zustimmend, mal assoziativ, weiterfragend immer aber auf literarischem Niveau. Vom Advent über Weihnachten und Ostern, über Pfingsten und Allerheiligen bis zum Ewigkeitssonntag schreiben: Thomas Vogel: Advent · Bruno Epple: Weihnachten · Karlheinz Kluge: Silvester, Neujahr · Tina Stroheker: Epiphanias · Udo Körner: Aschermittwoch · Jörg Vins: Palmsonntag · Karlheinz Ronecker: Gründonnerstag · Markus Manfred Jung: Karfreitag · Klaas Huizing: Ostern · Beatrice Eichmann-Leutenegger: Ostermontag · Heide Jahnke: Christi Himmelfahrt · Gabriele Hartlieb: Pfingsten · Traugott Giesen: Trinitatis · Michael Albus: Fronleichnam · Alexander Köhrer: Johannistag · Jadallah Shihadeh: Israelsonntag · Christine Langer: Erntedanktag · Helmut Zwanger: Reformationstag · Michael Gollnau: Allerheiligen, Allerseelen · Manuela Fuelle: Buß- und Bettag · Eva Christina Zeller: Ewigkeitssonntag und Thomas Weiß.

Erschienen im Klöpfer&Meyer Verlag, Tübingen, Herbst 2013.

Dienstag, 17. September 2013

Tischgenossin Gottes

Im Vorwort zu "Scivias" schrieb Hildegard von Bingen
"Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, sah ich ein überaus stark funkelndes Licht aus dem geöffneten Himmel kommen. Es durchströmte mein Gehirn, mein Herz und meine Brust ganz und gar, gleich einer Flamme, die jedoch nicht brennt, sondern erwärmt. Es erglühte mich so, wie die Sonne einen Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre Strahlen ergießt. Und plötzlich hatte ich die Einsicht in den Sinn und die Auslegung des Psalters, des Evangeliums und der anderen Schriften des Alten und Neuen Testamentes."



Tagesheilige des 17. September: Hildegard von Bingen

Quelle: Ökumenisches Heiligenlexikon 

Montag, 16. September 2013

Die Perle im Acker

Dieses Buch konnte ich nicht mehr weglegen, ich musste es in einem Zuge durchlesen, sagen wir bei einigen Büchern. Diese Bücher meinen es sicher gut mit uns, sie verschaffen die volle Befriedigung, die gute Unterhaltung. Pessoa, den ich erst seit wenigen Wochen lese, ist anders. Mit anders meine ich nicht, dass er eben ernste Literatur schreibt und deshalb schwer zu lesen wäre. Manche sehen das sicher so. Fernando Pessoa aber ist vor allem eines: kostbar. Schon nach ein oder zwei Seiten wurde mir klar, wie selten er ist, also, was für eine Kostbarkeit ich in den Händen hielt. Ich begann sofort langsamer zu lesen, tagelange Pausen einzulegen, zwang mich das Buch zur Seite zu legen, damit es lang und länger dauert, und mir nach jeder Seite genügend Zeit bliebe nachzudenken. Dieses Buch der Unruhe musst du ganz ruhig lesen, dachte ich, denn es wird keine Fortsetzung geben. 

Ich zitiere aus "Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" (Autobiographie ohne Ereignisse):
Ich wurde zu einer Zeit geboren, in der die Mehrheit der jungen Leute den Glauben an Gott aus dem gleichen Grund verloren hatte, aus welchem ihre Vorfahren ihn hatten - ohne zu wissen warum. Und weil der menschliche Geist von Natur aus dazu neigt, Kritik zu üben, weil er fühlt, und nicht, weil er denkt, wählten die meisten dieser jungen Leute die Menschheit als Ersatz für Gott. Ich gehöre jedoch zu jener Art Menschen, die immer am Rande dessen stehen, wozu sie gehören, und nicht nur die Menschenmenge sehen, deren Teil sie sind, sondern auch die großen Räume daneben. Deshalb habe ich Gott nie so weitgehend aufgegeben wie sie und niemals die Menschheit als Ersatz akzeptiert. Ich war der Ansicht, daß Gott, obgleich unbeweisbar, dennoch vorhanden sein und also auch angebetet werden könne... Dieser Menschheitskult mit seinen Riten von Freiheit und Gleichheit erschien mir stets wie ein Wiederaufleben jener alten Kulte, in denen Tiere Götter waren oder Götter Tierköpfe trugen.  

Freitag, 13. September 2013

Trauer um Wolfgang Herrndorf

Auf diesem Blog hatte ich vor einigen Monaten Wolfgang Herrndorfs Roman Sand unter den Stichworten Leiden, leidender Gerechter vorgestellt, dann wieder gelöscht, weil ich die Abneigung WHs gegen alles Religiöse und seine Angst vor Vereinnahmung akzeptierte. So wollte ich auch meiner Trauer um den Autor von Tschick, Sand und Arbeit und Struktur keinen Ausdruck verleihen, nicht hier. Nirgends.

Doch wer sein Krebstagebuch, seinen Blog Arbeit und Struktur las, der war, ob nun gläubig oder nicht, berührt und als Christ angefragt. WH der öffentlich, der schreibend starb wollte keine Kränze, keine Trauerfeiern und Anzeigen. Tod, wo ist dein Stachel, ruft uns Paulus zu, aber jeder, der einen für ihn wichtigen Menschen loslassen muss oder zusehen muss wie einer Krankheit und Sterben ausgeliefert ist und am Ende zu früh stirbt bzw. wie Herrndorf den Freitod wählt, spürt doch diesen Stachel und muss seinen Weg finden mit seiner Trauer umzugehen.

Ich möchte zumindest an zwei Blogeinträge erinnern:

13.3. 2010 11:00
Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem.
(geweint)

21.4. 2013 13:15
Von einer Freundin gehört, daß ihr in der Ausbildung im Hospiz beigebracht wurde, das Fenster im Zimmer der Gestorbenen zu öffnen, damit die Seele raus kann.
Das hat mir gerade noch gefehlt, zu verrecken in einem Haus, das von offensichtlich Irren geleitet wird.
“Auch bleib der Priester meinem Grabe fern; zwar sind es Worte, die der Wind verweht, doch will es sich nicht schicken, daß Protest gepredigt werde dem, was ich gewesen, indes ich ruh im Bann des ewgen Schweigens.” (Storm)

Der Blog endet mit dem Eintrag: Sascha Lobo um Arbeit und Struktur
Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.

Trotz dieser Kapitulation nach langem Kampf gegen die Krankheit ist aber eines gewiß: Wolgang Herrndorf lebt in seinen Büchern weiter, wir begegnen ihm weiterhin in seinen Gedanken, Sätzen. Seine Worte bleiben uns. 


Mittwoch, 4. September 2013

Dorthin

Hans Arp

Der Engel und die Rose
sind fortgezogen
flußaufwärts der Träume
in das Innere ihrer selbst.
Sie sind fortgezogen
dorthin wo man nicht mehr stirbt
zu den großen weißen Schwalben
zu den durchsichtigen Engeln
dorthin wo man nicht mehr stirbt.
Sie sind fortgezogen
in das Innere ihrer selbst
flußaufwärts der Träume
Der Engel und die Rose
sind fortgezogen. 


zitiert aus: Hans Arp, Gesammelte Gedichte III (1939-57).

Sonntag, 18. August 2013

Manchmal im Traum

Czeslaw Milosz   (1911-2004)

   Von Engeln

Man hat euch die weißen Kleider genommen,
Die Flügel, sogar das Sein,
Ich glaube dennoch an euch,
Boten.

Die umgestülpte Welt,
Das schwere Gewebe, mit Sternen und Tieren bestickt.
Durchwandelt ihr und betrachtet die wahren Nähte.

Ihr rastet hier kurz,
In der Morgenstunde vielleicht bei klarem Himmel,

In der Melodie, die ein Vogel nachsingt,
Oder im Duft der Äpfel im Abenddämmer,
Wenn Licht die Gärten verzaubert.

Man sagt, es hätte euch jemand erdacht,
Doch mich überzeugt das nicht.
Die Menschen haben sich selbst genauso erdacht.

Die Stimme - ist wohl Beweis,
Weil sie ohne Zweifel von klaren Wesen stammt,
Die leicht sind, beflügelt (warum auch nicht),
Mit Blitzen gegürtet.

Ich habe manchmal im Traum diese Stimme vernommen
Und, was noch seltsamer ist, in etwa verstanden
Den Ruf oder das Gebot in überirdischer Sprache:

bald ist es Tag,
noch einer,
tu, was du kannst.


zitiert aus: ENGEL.Texte aus der Weltliteratur, hg. Anne Marie Fröhlich, Manesse Bibliothek, 1991.


Dienstag, 13. August 2013

Daheimbleiben

Heute - wo alle reisen wollen, aber viele zuhause bleiben müssen - möchte ich auf eine schöne Auslegung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn zu sprechen kommen. Viele Schriftsteller haben sich diesem Gleichnis gewidmet. Auch der geschätzte Robert Walser hat eine Interpretation ganz eigener Art gewagt. 

Während der erstere artig ausriss und hübsch eilig auf und davon rannte, hielt sich der zweite beständig erstaunlich brav an Ort und Stelle auf und erfüllte mit unglaublicher Regelmäßigkeit seine täglichen Obligenheiten. Während der eine weiter nichts Besseres zu tun hatte als abzudampfen und fortzugondeln, wusste leider wieder der andere weiter nichts Gescheiteres anzufangen, als mitunter vor lauter Tüchtigkeit, Ordentlichkeit und Artigkeit und Nützlichkeit schier umzukommen. ..

Wenn der verlorene Sohn innig wünschte, dass er lieber nie verloren gegangen wäre, so wünschte sich seinerseits der andere, nämlich der, der nie weggegangen war, durchaus nicht weniger innig oder vielleicht noch inniger, dass er doch lieber nicht beständig zu Hause geblieben, sondern lieber tüchtig fortgelaufen und verloren gegangen wäre, oder er sich auch gern einmal gehörig würde habe heimfinden wollen. 


Montag, 5. August 2013

Sehnsucht

Joseph von Eichendorff

Mondnacht
 
Es war, als hätt' der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst'.

Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.

Freitag, 2. August 2013

Reisesegen

Möge dein Weg dir freundlich entgegenkommen, möge der Wind dir den Rücken stärken.
Möge die Sonne dein Gesicht erhellen und der Regen um dich her die Felder tränken.
Und bis wir beide, du und ich, uns wieder sehen, möge Gott dich schützend in seiner Hand halten. 

Gott möge bei dir auf deinem Kissen ruhen. 
Deine Wege mögen dich aufwärts führen, freundliches Wetter begleite deinen Schritt. 
Und mögest du längst im Himmel sein, wenn der Teufel bemerkt, dass du nicht mehr da bist.

Samstag, 27. Juli 2013

Save your servant

 Hear me, Lord, and answer me,
for I am poor and needy.
Guard my life, for I am faithful to you;
 save your servant who trusts in you.
You are my God; have mercy on me, Lord,
 for I call to you all day long. 
Bring joy to your servant, Lord, 
 for I put my trust in you.

Psalm 86 - [Ein Gebet Davids.]
Wende dein Ohr mir zu, erhöre mich, Herr!/Denn ich bin arm und gebeugt. Beschütze mich, denn ich bin dir ergeben!/Hilf deinem Knecht, der dir vertraut! Du bist mein Gott. Sei mir gnädig, o Herr!/ Den ganzen Tag rufe ich zu dir. Herr, erfreue deinen Knecht; /denn ich erhebe meine Seele zu dir./ Herr, du bist gütig und bereit zu verzeihen, /für alle, die zu dir rufen, reich an Gnade./Herr, vernimm mein Beten, /achte auf mein lautes Flehen! Am Tag meiner Not rufe ich zu dir; /denn du wirst mich erhören. Herr, unter den Göttern ist keiner wie du /und nichts gleicht den Werken, die du geschaffen hast./Alle Völker kommen und beten dich an, /sie geben, Herr, deinem Namen die Ehre./Denn du bist groß und tust Wunder; /du allein bist Gott./Weise mir, Herr, deinen Weg; /ich will ihn gehen in Treue zu dir. Richte mein Herz darauf hin, / allein deinen Namen zu fürchten!Ich will dir danken, Herr, mein Gott, /aus ganzem Herzen, / will deinen Namen ehren immer und ewig./Du hast mich den Tiefen des Totenreichs entrissen. /Denn groß ist über mir deine Huld./Gott, freche Menschen haben sich gegen mich erhoben, /die Rotte der Gewalttäter trachtet mir nach dem Leben; / doch dich haben sie nicht vor Augen./Du aber, Herr, bist ein barmherziger und gnädiger Gott, /du bist langmütig, reich an Huld und Treue./Wende dich mir zu und sei mir gnädig, /gib deinem Knecht wieder Kraft / und hilf dem Sohn deiner Magd!/Tu ein Zeichen und schenke mir Glück! /Alle, die mich hassen, sollen es sehen und sich schämen, / weil du, Herr, mich gerettet und getröstet hast. 

Sonntag, 21. Juli 2013

Je größer das Dunkel desto heller das Licht




Die Widerstände gegen die Reformer Johannes und Teresa von Ávila wurden immer stärker, die Inquisition brachte Johannes wegen Überschreitung seiner Zuständigkeiten 1577 in ein Ordensgefängnis nach Toledo. Die Schikanen und Qualen dort führten bei Johannes zur tiefen mystischen Erfahrung und zu deren dichterisch ausgestalteter schriftlicher Fixierung.
Johannes vom Kreuz (1542-1591) spanisch: Juan de la Cruz war ein Unbeschuhter Karmelit, Mystiker, Dichter und Kirchenlehrer. 1563 trat er in den Orden der Karmeliten ein. Er war begeistert von den Reformbestrebungen Theresa von Avilas, die er kurz nach seiner Priesterweihe kennen-lernte. Da die Inquisition weniger begeistert von Reformen war, sperrte man Johannes vom Kreuz monatelang ins Gefängnis. Dort schrieb er unter Qualen das Gedicht Die dunkle Nacht. Es beschreibt den Weg der Seele, die ihre Freude darüber zum Ausruck bring, auf dem Weg der geistigen Entäußerung die erhabene Stufe der Vollkommenheit, die Vereinigung mit Gott, erstiegen zu haben. 


Die dunkle Nacht

Entflammt von Liebesqualen,
als schwarz die Nacht einst webte,
o Glück, das ich erlebte!,
ging unbemerkt ich aus,
als Ruhe schon befriedete mein Haus.
 

Wohl auf geheimer Stiege,
vermummt, mit sicherm Schritte,
ging durch des Dunkels Mitte,
o Glück! ich heimlich aus,
als Ruhe schon befriedete mein Haus.

O seligste der Nächte!
Verborgen, sah mich keiner;
mein Führer war nur Einer,
ein Licht, durch das ich sah:
Des Herzens Flamme wies mir, was geschah.

Sie führte mich gewisser
denn Mittagssonnenfeuer
zur Stätte, wo mein Treuer
mein harrete allein.
In diese Stätte drang kein andrer ein.

O Nacht, so hold wie nimmer
das Morgenrot erscheinet!
O Nacht, die du vereinet
dem Bräutigam die Braut,
die umgewandelt sich in Ihm erschaut!

 Mein Herz ihm treu und gänzlich,
bewahrt zum Blumenbette,
war seine Schlummerstätte,
wo liebend ich ihn hielt,
indes die Zeder mit den Lüften spielt!

 Auroras Haar in Lüften,
es weht zur Morgenstunde,
da fühlt’ ich eine Wunde
am Hals von lichter Hand.
O die Entzückung, die ich da empfand!

 Ich lehnt’ an den Geliebten,
mein Antlitz liebestrunken,
und – alles war versunken.
Ich schwand mit allem hin,
die Sorgen ließ ich unter Lilien blüh’n.

Mittwoch, 17. Juli 2013

Zum Gegengebet

Ich entdeckte den Büchnerpreisträger Josef Winkler erst jetzt und es musste sogar etwas nachgeholfen werden, also ich schaffte es nur durch professionelle Hilfe. Vielleicht notierte ich mir diesen Namen auf einen Zettel, sagen wir nach einem Telefonat. Später surfte ich vielleicht ein wenig durchs Netz, um mich zu informieren. Dabei bin ich auf folgende Sätze gestoßen: Gestern abend, im Bett auf dem Rücken liegend, stellte ich mir meinen Tod vor. Ich schloß die Hände zum Gegengebet. Und das genügte mir schon. Ich stellte mir dann tagelang diesen Mann vor, der, genau wie ich, schreckliche Angst vor dem Tod hat und der gestern abend, in seinem Bett auf dem Rücken liegend, sich seinen Tod vorstellte und dabei die Hände zum Gegengebet schloß. Ich wollte dann einfach wissen, wie er sich seinen Tod vorstellte und was er gebetet hat, denn ich stellte mir auch vor, dass sein ganze Buch aus diesem Gegengebet bestehen würde. Der Titel des Buches lautet Wortschatz der Nacht und ich kaufte es und meine Vorstellungen wurden übertroffen. Es ist ein rauschhaftes Buch, leidenschaftlich und mit genügend Zorn. Aber auch Sehnsucht und einer überfließenden Liebe. Ich würde jetzt gern seitenlang daraus zitieren, aber aus verschiedenen Gründen beschränke ich mich auf wenige Kostproben.

Rot oder weiß? Öl oder Wasser? Essig oder Galle? Noch während der Soldat mit der Lanze den Brustkorb Jesu aufbricht... reißt er im Traum meine Augen auf. Erschrocken blicke ich auf die Lanze in meiner Brust, ein Freund will sie herausziehen, aber bösartig blicke ich ihn an, sage, daß ich ihn liebe, umklammere mit der rechten Hand die Schneide der Lanze, spüre keinen Schmerz mehr... und stoße mit meiner letzten Kraft die Schneide tiefer in die Brust. Wenn du mir das Leben rettest, nur um dich in mir zu lieben, laß mich bitte sterben, falte deine Hände und blick mir ins bleierne Gesicht. Das Haupt senkt sich auf meine Brust. Die Erntedankkrone fällt zu Boden und rollt vor die Füße der Mutter. Langsam, mit tränenden Augen und einem roten Fleck in der Hüftgegend, geht sie, Weizenkorn für Weizenkorn kauend, den Berg hoch. Sie wird den Gekreuzigten mit dem Brot Gottes füttern... Die Kinder Gottes sind inzwischen Greise geworden. 

Josef Winkler, Wortschatz der Nacht, Suhrkamp Verlag, 2013.

Montag, 15. Juli 2013

Mehr Licht!

Heute möchte ich mal etwas mehr Peter Licht in die Sache bringen, weil Peter sich Sachen fragt, die ich mich auch oft frage, nur er fragt schöner.
manchmal frage ich mich wie weit wir noch gehen sollen und ob noch jemand mit uns kommt...
in welchem jenseits wir jetzt schon sind/
und ob wir nicht eher stehen geblieben sind/
und die kugel rollt sich weg unter uns/
manchmal frage ich mich, wo all unsere leute jetzt sind/sie kamen uns abhanden unterwegs...


So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern!
Kolosser 3,12-13 

Dienstag, 9. Juli 2013

Die Engel, die Mücke und die Seele

Verstehen wir immer mehr oder immer weniger? Früher liebte ich Meister Eckhart gerade wegen seiner intellektuellen Art, seine Mystik ging die meisten Wege Seite an Seite mit der Vernunft. Er benötigte keine Visionen, er erklärte uns den Gang der Seele. Wenn ich ihn jetzt wieder lese, finde ich ihn beinahe schwierig. Aber lest selbst. Ich zitiere einen Abschnitt aus der Predigt "Über die Armut an Geist". Es geht dort um drei zu erlangende Stufen: nichts wollen, nichts wissen und nichts haben. Nichts wollen? Wenn man diesen Zustand nur einmal am Tag erlangen könnte, für wenige Sekunden, dann wäre man in diesen Sekunden doch glücklich.  


Erstens also behaupten wir, ein armer Mensch sei der, der nichts will. Diesen Satz verstehen einige Leute nicht richtig. Es sind die Leute, die sich in ihrem Selbstbezug an Bußwerke und äußere Übungen halten. Sie finden, das sei etwas Großes. Mir tun diese Menschen leid. Denn sie begreifen so wenig von der göttlichen Wahrheit. Dem äußeren Anschein folgend, nennen viele Leute sie „heilig”. Aber sie sind Esel. Innen sind sie Esel, denn sie begreifen nicht das Besondere der göttlichen Wahrheit. Auch diese Menschen behaupten, ein armer Mensch sei, wer nichts will. Sie erklären das aber so: Der Mensch soll so leben, dass er nirgends seinen eigenen Willen erfüllt, sondern immer nur danach strebe, wie er den liebsten Willen Gottes erfülle. Um diese Menschen steht es gut, denn ihre Absicht ist gut, deshalb wollen wir sie loben.
Gott gebe ihnen in seiner Barmherzigkeit das Himmelreich. Ich gehe aber noch weiter und behaupte bei der göttlichen Wahrheit: Diese Menschen sind nicht arm, und sie gleichen auch nicht armen Menschen. Leute, die nichts Besseres kennen, achten sie hoch. Aber ich behaupte: Sie sind Esel; von der Wahrheit begreifen sie nichts. Weil sie es gut meinen, werden sie das Himmelreich erlangen, aber von der Armut, von der wir nun reden wollen, verstehen sie gar nichts.
Käme nun einer und fragte mich: Was wäre denn ein armer Mensch, der nichts will?, so antworte ich ihm und argumentiere wie folgt: Solange der Mensch daran festhält, es sei sein Wille, den liebsten Willen Gottes erfüllen zu wollen, so lange hat er die Armut nicht, von der wir reden wollen. Denn dieser Mensch besitzt immer noch einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes entsprechen will, und das ist nicht die wahre Armut. Denn der Mensch, der die wirkliche Armut hat, der ist völlig abgelöst von seinem geschaffenen Willen, so wie damals, als er noch nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr den Willen besitzt, den Willen Gottes zu erfüllen und solange ihr Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, so lange seid ihr nicht arm. Denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts verlangt.
Als ich in meinem ersten Ursprung stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursprung meiner selbst. Da wollte ich nichts. Dort verlangte ich nach nichts, denn ich war abgelöst von ihm und ein Erkennender meiner selbst im Genuss der Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und sonst nichts. Was ich wollte, das war ich. Was ich war, das wollte ich. Und hier stand ich, abgelöst von Gott und allen Dingen. Aber als ich dann heraustrat aus meinem freien Willen und mein geschaffenes Wesen entgegennahm, da bekam ich einen Gott. Denn bevor die Geschöpfe waren, da war Gott nicht Gott, vielmehr war er, was er war. Aber als die Geschöpfe entstanden und ihr geschaffenes Wesen empfingen, da war Gott nicht mehr Gott in sich selbst, sondern er war Gott in den Geschöpfen.
Nun behaupte ich: Gott, sofern er Gott ist, ist nicht das vollkommene Wesensziel der Geschöpfe. Dazu ist der Reichtum zu groß, den das geringste Geschöpf in Gott hat. Hätte eine Mücke Vernunft und suchte sie mit Vernunft den ewigen Abgrund des göttlichen Wesens, aus dem sie gekommen ist, so könnte Gott, behaupte ich, mit all dem, worin er Gott ist, die Mücke nicht ausfüllen und ihr Genüge verschaffen. Deswegen bitte ich Gott, losgelöst zu werden von Gott und die Wahrheit dort zu ergreifen und die Ewigkeit dort zu genießen, wo die obersten Engel und die Mücke und die Seele gleich sind worin ich stand und wollte, was ich war und war, was ich wollte. Deshalb behaupte ich: Soll der Mensch arm sein an Willen, dann darf er so wenig wollen und verlangen, als er wollte und verlangte, als er nicht war. Und in diesem Sinne ist der Mensch arm, der nichts will.

Mittwoch, 3. Juli 2013

Wer wartet hinter der Tür


 Heimkehr von Franz Kafka

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.

Die Parabel Heimkehr kann durchaus mit dem Gleichnis Vom verlorenen Sohn (Lukas 15, 11-32) in Verbindung gebracht werden. Der Unterschied liegt auf der Hand: Kafkas Heimkehrer wird nie wirklich ankommen, selbst wenn er zurückkehrt. Der verlorene Sohn im Gleichnis der Bibel wird vom Vater in die Arme genommen, Kafkas Held hält zögnerd inne. Er lauscht, er erinnert sich, er zweifelt: was kann ich ihnen nützen. Er wagt es nicht einmal an die Küchentür zu klopfen und so bleibt eine Familie, von der wir nichts wissen im Verborgenen. Der Vater bleibt unerkannt in der Ferne, der Sohn lauscht von der Ferne her und erhorcht nichts. Die Szene, die alle Maler so gern darstellen, nämlich wie der verlorene Sohn vom Vater in die Arme genommen wird, entfällt. Aber warum kann dieser Heimkehrer nicht heimkehren, fragen wir uns. Hoffentlich. Man deutet die Parabel gern autobiographisch und sagt: Kafka habe sich in seiner Familie, insbesondere beim Vater, nie zuhause gefühlt, er war ein Außernseiter in der eigenen Familie. Deshalb kann er nicht nachhause zurückkehren, weil er es nie hatte, dies Zuhause.
Schwer ist es fortzugehen für einen, der fremd ist in der eigenen Familie. 
Unmöglich ist es heimzukehren, wenn man nicht fortgeht.

 Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 in Prag geboren. Für mich wird er mit jedem Text, den ich von ihm lese wiedergeboren.



Donnerstag, 27. Juni 2013

Fast hab ich schon das Nichts erreicht

Wilhelm Busch

Der Asket

Im Hochgebirg vor seiner Höhle
Saß der Asket;
Nur noch ein Rest von Leib und Seele
Infolge äußerster Diät.
Demütig ihm zu Füßen kniet
Ein Jüngling, der sich längst bemüht,
Des strengen Büßers strenge Lehren
Nachdenklich prüfend anzuhören.
Grad schließt der Klausner den Sermon
Und spricht: Bekehre dich, mein Sohn!
Verlaß das böse Weltgetriebe.
Vor allem unterlaß die Liebe,
Denn grade sie erweckt aufs neue
Das Leben und mit ihm die Reue.
Da schau mich an. Ich bin so leicht,
Fast hab ich schon das Nichts erreicht,
Und bald verschwind ich in das reine
Zeit-, raum- und traumlos Allundeine.
Als so der Meister in Ekstase,
Sticht ihn ein Bienchen in die Nase.
Oh, welch ein Schrei!
Und dann das Mienenspiel dabei.
Der Jüngling stutzt und ruft: Was seh ich?
Wer solchermaßen leidensfähig,
Wer so gefühlvoll und empfindlich,
Der, fürcht ich, lebt noch viel zu gründlich
Und stirbt noch nicht zum letztenmal.
Mit diesem kühlen Wort empfahl
Der Jüngling sich und stieg hernieder
Ins tiefe Tal und kam nicht wieder.

Freitag, 14. Juni 2013

Herrn G.s zauberhafte Welt

Wie es der Titel Geschichten vom Herrn G. uns schon verspricht, so wird in dem schönen Prosabändchen von Thomas Weiß voller Ironie und Freude am Spiel und in gewohnter Dichtersprache erzählt. Beim ersten Aufblättern des Buches denkt man vielleicht auch an den berühmten Herrn K. Warum nicht, aber Thomas Weiß ist eben auch Theologe und da wurde eben aus Herrn G. ein ganz besonderer Herr. Einige Miniaturtexte haben mich an die zauberhafte Welt der A. andere an die Naive Kunst erinnert. Wie meine ich das? Ich meine die einfache, ja kindhafte, die scheinbar unbekümmerte und verspielt phantasievolle Art zu erzählen, die sich auch in den gewählten Bildmotiven zeigt. Ich dachte sofort an die Bilder vom Zöllner Henri Rousseau, die ich sehr mag, aber auch an andere Künstler wie Seraphine Louis. Dann dachte ich an The Brick Bible, weil auch sie uns aus einem anderen Blickwinkel auf die heiligen Geschichten blicken lässt und wir plötzlich über etwas - was wir so noch nicht gesehen hatten - zu schmunzeln beginnen, wo wir früher nur nachdachten. Doch mir geht es bei meinen Vergleichen weniger um die Vorstellung neuer Methoden - auch der Jüdische Witz funktioniert schon seit Jahrhunderten genauso - sondern allein um den anderen Blick auf das Heilige. Sein Blick entheiligt nicht einfach mit allen Mitteln - das kann ja heute wohl jeder - sein Blick ist sanft, tiefgründig, humorvoll. Thomas Weiß räumt die Wohnung Gottes ein wenig um. Es war einfach wieder an der Zeit.  

Ein Beispiel: Nachdem Herr G. das Lachen erfunden hatte, wollte er einmal seiner selbst spotten. Wer findet mich lächerlich? rief er in die Runde. Aber von allen Wesen fand sich nur der Mensch, der sich über ihn lustig machte. Da sprach Herr G.: Du bist kein Tier.     

Oder: Es ist kein leichter Weg vom Himmel auf die Erde. Sehr steil fällt er ab, und Herr G. war nicht völlig schwindelfrei; wenn er sich nach unten wandte, fing die Welt an, sich schnell zu drehen, und das machte Herrn G. ganz unsicher. Erst, als die Menschen nach oben schauten und ihre Blicke sich mit den seinen trafen, wagte er es, langsam herabzusteigen. Sprosse um Sprosse herunter an der Leiter, die aus Blicken gebaut war, aus erhobenen Häuptern und aus dem Wunsch, bei den Menschen zu sein und den Himmel einmal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. 

Thomas Weiß, Geschichten vom Herrn G. erschienen im Klöpfer&Meyer Verlag, Tübingen, 2013.

Interview mit Thomas Weiß im ERF hier:


Mittwoch, 5. Juni 2013

Ich glaub schon


Ich glaub schon -Ein Dokumentarstück über Glaubensbekenntnisse


Mündliche Überlieferung, Verschriftlichung der ersten Geschichten, Bücher, Heilige Schriften, Schriftreligionen und wieder zurück zum gesprochenen Wort. Ähnlich der Ort. Paradiesgarten, Abraham vorm Zelt, Steinaltar, Tempel, Kirchen, Gotteshäuser und zurück unter den freien Himmel, der niemanden ausschließt. Hier soll aus aktuellem Anlass auf ein etwas anderes Theaterstück über den Glauben und eine sehr lebendige Art diesen zu bekennen hingewiesen werden. Ein schönes Projekt:

Sechs junge Menschen begegnen uns dort, die sich auf die ein oder andere Weise für ein Leben mit dem Glauben entschieden haben und von sich erzählen: ein Mann, der nach acht Jahren Ausbildung im Juni seine Priesterweihe haben wird. Ein anderer, der sich aus Liebe dagegen entschieden hat. Zwei Musliminnen, deren Kopftuch in den Menschen den Reflex „Islamexpertin“ auslöst. Eine Pastorentochter mit Fluchtgeschichte. Und Firas, der das „gelobte Land“ verlassen hat und jetzt im Rebstock kocht. Ziemlich gut und exklusiv für alle, die zu ICH GLAUB SCHON kommen.
Als Publikum erwarten Euch also nicht nur spannende Begegnungen und eine gute Suppe, sondern auch die Holz- und Natur-Installationen des Schweizer Szenografen Murbach/ Meier/ Jaggi/ Franz, in denen dieser Parcours stattfinden wird.

Bei schlechtem Wetter bitte unbedingt festes Schuhwerk und Regenjacke mitbringen!
Dauer:  90 Minuten

WO
auf den GUTLEUTMATTEN: eine wilde Wiese, die ein neuer Außenspielort des Theater Freiburg ist.
Zu finden in Haslach, Escholzstr./ Ecke Carl-Kistner-Str.
Treffpunkt: Tramhaltestelle Haslach Bad

WANN
 Mi. 12.06.; Fr. 14.06.; Di. 25.06; Mi. 26.06.

TEAM Künstlerische Leitung Paul Brodowsky / Ruth Feindel / Christine Umpfenbach    Ausstattung Nina Hofmann    Komposition Amir Teymuri / Carlo Philipp Thomsen  
Mit: Samara Abel el Hafez / Anneli Binder / Sare Sagdic-Begas / Christian Mario Hess / Firas Khatib / Johannes Veith    Violoncello Christian Buchholz    Klarinette Lorenzo de Cunzo 

PREDIGT zum Dokumentarstück vom 2. Sonntag nach Trinitatis (09.06.13) - Immer schon gesagt
  


Freitag, 31. Mai 2013

Das ist hier die Preisfrage

Kan die Theologie von der nähern Vereinigung, die einige Neuere zwischen ihr und der Dichtkunst zu knüpfen angefangen, sich wohl Vortheile verprechen? 
Dieser Preisfrage widmete sich Jean Paul in den 1780er Jahren und gewann mit deren Beantwortung sogar den Preis! Um es hier abzukürzen: JA! Doch bei diesen sintflutartigen Regengüssen draußen und Erkältungsgefieber drinnen werde ich mich heute nicht auf die Folge logischer Argumente einlassen, sondern nur einige köstliche Textauszüge zitieren:

Da man endlich auch durch Scheiter- haufenfeuer niemanden mehr erleuchten kan, so bleibt folglich nur ein einziges Mittel, zu erleuchten übrig, nämlich Dichterfeuer. 

Ferner: der Anfang und das Ende der Bibel stammen aus poetischen Federn her und die Dichtkunst scheint an ihr keine Verschönerung gespart zu haben.

Denn nur iezt, nachdem ich unwidersprechlich dargethan, daß die Poesie nicht minder als die Theologie gegen den kalten Verstand zu Felde ziehe, darf ich mit einiger Hofnung der Antwort auf die Frage entgegensehen: wenn nun gar zu den Termen der Theologie sich die Dichtkunst mit ihren Verhüllungen schlägt, wenn dem leichten Kopf der ernstern die leztere noch gar ihre Flügel leiht, mus sie alsdan nicht zu einer neuen Höhe aufsteigen? - Allein dies ist noch das Wenigste.

Samstag, 11. Mai 2013

Nochmal zum Spion Gottes

Er selber sagte von sich, er sei ein Spion Gottes. Ich erwähne diese Selbstbezeichnung hier besonders gern, weil Kierkegaard trotz seiner Kirchenkritik und gerade wegen seiner Gedankenschärfe nie aufhörte religiöser Schrifststeller oder christlicher Autor zu sein. Atheismus war schon damals sehr im Kommen. So muss man vielleicht erwähnen, dass nicht nur die Kirche ihn vergisst, sondern auch die andere Seite ihn nicht ernst genug nimmt. Klar, Dichter wie Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Robert Musil, Max Frisch, Samuel Beckett oder Thomas Bernhard wurden von ihm inspiriert. Auch Philosophen wie Karl Jaspers, Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre bezogen sich auf ihn. Doch der Inlandreisende oder Geistreisende Kierkegaard wollte womöglich gar nicht als Gründer der Existenzphilosophie oder Vater der Psychoanalyse angesehen werden.Er kritisierte die Aufklärung hart genug, eben weil er aufgeklärt war. Er kritisierte das real existierende Christentum als Christenheit, weil er das echte Christentum wollte. ...denn, was das Christentum ganz verwirrt hat und was zum großen Teil den Anlaß zu der Einbildung von einer triumphalen Kirche gegeben hat, ist dies, daß man das Christentum als Wahrheit im Sinne von Resultat angesehen hat, statt als Wahrheit im Sinne von "Weg".

Oder dies:
Die Liebe hat in den Dichtern ihre Priester, und bisweilen hört man ihre Stimme, die sie hochzuhalten weiß; aber über den Glauben hört man kein Wort, wer spricht dieser Leidenschaft zu Ehren? Die Philosophie geht weiter. Die Theologie sitzt geschminkt am Fenster und buhlt um die Gunst der Philosophie, bietet dieser ihre Schönheit feil. Es soll schwer sein, Hegel zu verstehen, aber Abraham zu verstehen ist eine Kleinigkeit. Über Hegel hinauszugehen, wäre ein Wunder, aber über Abraham hinauszukommen, ist das leichteste von allem. Ich habe meinerseits viele Stunden auf das Verständnis der Hegelschen Philosophie angewandt und glaube auch, sie einigermaßen verstanden zu haben... All das tue ich leicht, natürlich, mein Kopf leidet nicht darunter. Wenn ich dagegen über Abraham nachdenken soll, dann bin ich wie vernichtet. Mir kommt in jedem Augenblick das ungeheure Paradox vor Augen, das der Inhalt von Abrahams Leben ist.

Sonntag, 5. Mai 2013

Glückwunsch zum Zweihundertsten!

Inlandreisender
Sören Kierkegaard, geb. 5. Mai 1813 blieb ein Schwebender in dieser Welt, sein Leben hat etwas unwirklich Schemen-haftes, sein Denken jedoch nie! Die Kirche, damit die Christenheit, beachtet den Abweichler lieber kaum, sie überlassen ihn gern irgendwelchen Fachspezialisten an irgendwelchen Universitäten. Philosophen und andere Weltmänner sollen sich gefälligst mit diesem Bösewicht beschäftigen. Das ist sehr bedauerlich, aber auch nachvollziehbar, denn K. führte in seinen Spätschriften einen recht verbissenen Kirchenkampf siehe: Zitat unten. 
Außerdem ist einer der sich nicht richtig festlegen will auf eine Seite am Ende doch allen Seiten unheimlich. Kierkegaard pendelte immerhin zwischen Religion, Dichtung und Wissenschaft spielerisch hin und her und das hat er jetzt davon, siehe: Karrikatur links. 

Wir lasen Entweder Oder unterm Dach in der kleinen Kammer, siehe: Notizen einer Theologiestudentin im ersten Semester (unveröffentlicht).

Zitat unten: Der Unterschied zwischen einem Genie und einem Christen ist der: Das Genie ist das Außerordentliche der Natur; dazu kann sich kein Mensch selbst machen. Ein Christ ist das Außerordentliche der Freiheit oder, genauer, das Ordentliche der Freiheit, das man nur selten findet, was aber jeder von uns sein sollte. Deshalb will Gott, dass das Christentum unbedingt für alle verkündet werde, deshalb waren die Apostel ganz einfache Menschen, das Vorbild in Gestalt eines geringen Dieners, alles, um zu zeigen, dass dieses Außerordentliche das Ordentliche und allen zugänglich ist - aber dennoch ist ein Christ etwas noch Selteneres als ein Genie.

Mittwoch, 24. April 2013

Durch heitres und jegliches Wetter

Das Sonnenlied

Du höchster, allmächtiger, guter Herr,
dein ist Lobpreis und Ruhm, Ehre und jeglicher Segen.
Dir allein, Höchster, gebühren sie. Und keiner der Menschen 
ist wert, dich im Munde zu führen.

Sei gelobt, mein Herr, mit all deinen Kreaturen,
sonderlich mit der hohen Frau, Schwester Sonne,
die den Tag macht und mit der du uns leuchtest.
Schön in der Höhe und strahlend im mächtigen Glanz,
ist sie dein Sinnbild, du Herrlicher!

Sei gelobt, mein Herr, durch Bruder Mond 
und die Sterne. Du hast sie am Himmel geformt,
klar, kostbar und schön.

Sei gelobt, mein Herr, durch Bruder Wind,
durch Luft und Gewölk, durch heitres und jegliches Wetter
Alle Kreaturen belebst du durch sie!

Sei gelobt, mein Herr, durch Schwester Wasser.
Es ist so nützlich, gering, köstlich und keusch.

Sei gelobt, mein Herr, durch Bruder Feuer. 
Durch ihn erhellst du die Nacht, schön ist er,
heiter und kraftvoll und stark.

Sei gelobt, mein Herr, durch unsere Schwester
Mutter Erde. Sie ernährt und versorgt uns
und zeitigt allerlei Früchte, farbige Blumen und Gras.

Sei gelobt, mein Herr, durch jene, die verzeihen
in deiner Liebe, die Krankheit tragen und Trübsal.
Selig, die da dulden in Frieden ! Von dir, du
Höchster, empfangen sie die Krone.

Sei gelobt, mein Herr, durch deinen Bruder,
den Leibestod. Kein Lebender kann ihm entrinnen.
Weh denen, die sterben in Todsünden. Selig, die
sterben, geborgen in deinem heiligsten Willen.
Der zweite Tod vermag nichts wider sie.

Lobet und preiset meinen Herrn, danket und dient ihm
in großer Demut. 


Der Sonnengesang ist der bekannteste Text des Troubadours aus Assisi und zählt aufgrund seiner dichterischen Gestalt und seines Inhalts zur Weltliteratur. Es entstand in alt- italienischer Sprache im Winter 1224/ 25, als Franziskus krank in einer Hütte bei San Damiano lag. Nach späteren Quellen fügte Franziskus die Friedens-strophe hinzu, um einen Streit zwischen dem Bischof und dem Bürgermeister von Assisi zu schlichten. Die Strophe über „Bruder Tod“ verfasste er, als er selbst dem Tode nahe war.  

Faszinierend ist dieses einfache Loblied für mich nicht allein, weil es Gottes gute Schöpfung lobt, sondern weil es sie gerade in Zeiten der Bedrohung lobt. Beschwörend. Und voller Demut. Wenn ich krank bin, dann klage ich, wenn ich Streit erlebe, streite ich gern mit. Heute strahlt mir die Sonne ins Zimmer und es ist alles ganz mild und leicht. Franziskus liebte vermutlich gutes sonniges Wetter genau wie alle andern auch, aber seine Liebe umspannt jegliches Wetter.
 

Montag, 22. April 2013

Jeden Morgen las ich ...

Jeden Morgen las ich ein wenig in den Evangelien. - Es ist eine köstliche Weise, so den Tag zu beginnen. Jeder sollte es tun, auch wenn er selbst ein wildes unregelmäßiges Leben führt. 

Ein dem Erlöser ähnliches Leben führt nur, wer ganz und gar er selbst bleibt, sei er nun ein großer Dichter oder ein Gelehrter, ein junger Student oder ein einfacher Schafhirte auf der Heide, ein Dramatiker wie Shakespeare oder ein Sucher und Gottgrübler wie Spinoza, ein spielendes Kind, oder ein Fischer, der seine Netze in den See senkt. Er sei was er mag, was liegt daran, wenn er nur alle Möglichkeiten seiner Seele zur Entfaltung bringt. 
 
Man könnte einwenden: warum lies Jesus dann Simon, den Fischer, nicht an seinem See? Warum sprach er sein Folge mir nach! Hätte Simon nicht auch ganz und gar er selbst bleiben können, dort unter den anderen Fischern? Warum musste er alles stehen und liegen lassen, Jesus nachfolgen und Petrus werden? Warum musste Saulus zum Paulus werden? Die Frage also ist: gehört zur Imitatio Christi die Selbstverleugnung? Oder führte Adolf H. schon ein dem Erlöser ähnliches Leben, weil er so ganz und gar er selbst blieb?

Ich sage mir, die noch immer sogenannte "Wahrheit" liegt in der Mitte. Und irgendwie ahne ich sogar, was an dieser Wilden Auslegung völlig korrekt ist, nämlich, dass jeder Mensch eine Gabe hat, die er nutzen und gerade nicht verleugnen soll. Jesus sah die Gabe Simons, der ein Petrus werden sollte, der seine Bestimmung nur als Petrus erlangen konnte. Er wäre als Fischer am See nie ganz und gar er selbst geworden. Er musste ein anderer werden, um er selbst zu werden. Hesse würde das hier sehr gefallen.  
  

Freitag, 5. April 2013

Die geheimnisvolle Wendung

Magdalena am Grab bezeichnet nicht nur die Geschichte aus dem Johannes-evangelium, sondern inzwischen auch das kleine Inselbändchen mit einer Erzählung von Patrick Roth.

Kurzbeschreibung: Ein Regisseur will mit vier Schauspielern eine Szene proben. Es ist nicht irgendeine, sondern jene Passage aus dem Johannes-Evangelium, die als Magdalena am Grab bekannt ist. Sie proben in einem leerstehenden Haus am Mulholland Drive in Hollywood. Die kurze Szene, die so einfach und eindeutig scheint, wird immer wieder durchgespielt, denn bei jedem Durchgang verliert sie mehr und mehr an vertrauter Kontur: Spiel und Wirklichkeit durchdringen sich auf fast gespenstische Weise. Alles hängt offenbar an einer Wendung, die erforderlich wäre, damit das Geschehen ganz verständlich würde - an einem Satz, den der Bibeltext jedoch ausspart, als solle hier ein Geheimnis immer neu entdeckt werden.
Besonders eindrücklich ist Roths Bezeichnung "Magdalenensekunde" für die gegenseitige Zuwendung, vor allem jedoch das Wiedererkennen zwischen Jesus und Maria Magdalena. Theologisch formuliert heißt es dann: „Die Magdalenensekunde: das ist die Sekunde der Wiedererkennung: Mensch und Gott werden einander wieder bewußt. Rettend bewußt, einander taufend bewußt: aus dem Wasser des Unbewußten, Toten: ziehen sich beide, einer den anderen – einer neu, neugeboren, im anderen“ (Roth 2003, S.49).




Sonntag, 31. März 2013

Die Gabe der Tränen


Passend zum Predigtext des heutigen Ostersonntags Joh 20,11-18 Maria Magdalena am leeren Grab - insbesondere der wiederholten Frage: "Warum weinst du?" zunächst von den Engeln, dann vom noch unerkannten Auferstandenen gestellt -
ein Gedicht von Dorothee Sölle:

Gib mir die gabe der tränen gott

Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache

Führ mich aus dem lügenhaus
wasch meine erziehung ab
befreie mich von meiner mutter tochter
nimm meinen schutzwall ein
schleif meine intelligente burg

Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache

Reinige mich vom verschweigen
gib mir die wörter den neben mir zu erreichen
erinnere mich an die tränen der kleinen studentin aus göttingen
wie kann ich reden wenn ich vergessen habe wie man weint
mach mich naß
versteck mich nicht mehr

Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache

Zerschlage den hochmut mach mich einfach
laß mich wasser sein das man trinken kann
wie kann ich reden wenn meine tränen nur für mich sind
nimm mir das private eigentum und den wunsch danach
gib und ich lerne geben

Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache
gib mir das wasser des lebens


Dorothee Sölle zitiert aus: Gottesgedichte. Ein Lesebuch zur deutschen Lyrik nach 1945, H. Zwanger/K.-J. Kuschel (Hg.). Erschienen im Klöpfer&Meyer Verlag, 2011.

Freitag, 22. März 2013

Nur für den Fall

Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei 

In: Jean Paul (1763 – 1825), Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F.St.Siebenkäs, 8.Kapitel, Erstes Blumenstück
 
Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen im Traume wieder Flügel und Schimmer an und spielen wie Johanniswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrückt uns diese flatternden Funken nicht! - Lasset uns sogar die dunkeln peinlichen Träume als hebende Halbschatten der Wirklichkeit! - Und womit will man uns die Träume ersetzen, die uns aus dem untern Getöse des Wasserfalls wegtragen in die stille Höhe der Kindheit, wo der Strom des Lebens noch in seiner kleinen Ebene schweigend und als ein Spiegel des Himmels seinen Abgründen entgegenzog? -
Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die eilf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heißer herein zog. Über mir hört' ich den fernen Fall der Lauwinen, unter mir den ersten Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei Gift-Hecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. - Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Toter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.
Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist kein Gott?«
Er antwortete: »Es ist keiner.«
Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.
Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. - Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!«
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?« - Und er antwortete mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.«
Da kreischten die Mißtöne heftiger - die zitternden Tempelmauern rückten auseinander - und der Tempel und die Kinder sanken unter - und die ganze Erde und die Sonne sanken nach - und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei - und oben am Gipfel der unermeßlichen Natur stand Christus und schauete in das mit tausend Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.
Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellenstreuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? - Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne aus-blinkt, indem du vorübergehest? - Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir - O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? - Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?.....
Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo - ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. - Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen - Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?«
Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt' ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermeßlichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz!‹... Ach ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel hinauf: ›auch mich kennst du, Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle.‹ ... Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht - und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! - Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.«...
... als ich erwachte. Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte - und die Freude und das Wei-nen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.

Fußnote: Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, dass in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstöret wären, so würd ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und - er würde mich heilen und meine Gefühle wiederbeleben.