Die Erlösung
Ein Jäger schritt
durch einen dunkeln Wald und geriet unversehens so tief in das Dickicht hinein,
dass er nicht mehr wusste, ob es Tag- oder Nachtzeit war. Da sah er eine
bleiche Nebelgestalt daher kommen, die winkte ihm und streckte ihm ihre weisse
Hand entgegen. Erst war der Jäger erschrocken und meinte nichts anderes, als
dass es ihm an das Leben gehen müsste. Aber bald fasste er wieder Mut, und es
war ihm, als dürfe er die dargebotene Hand nicht zurückweisen. Wie er also keck
die zarte Hand ergriff, war es wie wenn er lauter Eiszapfen anrührte, und im
gleichen Augenblick standen die Bäume ringsumher in Feuer; Schlangen zischten
auf, und das Geheul der Wölfe und anderer reissender Tiere erschallte ganz in
der Nähe.
Aber der Jäger hielt
nur umso kräftiger die kalte Hand fest und wankte um keinen Schritt von der
Stelle. Bald war es auch wieder stille und dunkel wie vorher. Da kam ein graues
Männlein und winkte dem Jäger auf die Seite; es trug an seinem Arm ein
Körbchen, das von hellem Diamant und bis zu oberst mit glitzerndem Gold
angefüllt war; das gab zusammen einen so hellen Schein wie die Sonne. Aber der
Jäger hielt noch immer die Hand fest und blieb unbeweglich stehen. Da sprang
plötzlich ein Wolf vorbei, der hatte ein Kind im Rachen, das der Jäger mit
Schrecken als seins erkannte.
Aber er lief ihm
nicht nach, denn es war ihm, als täte er eine rechte Sünde, wenn er die Hand
fahren liesse. Als nun der Wolf verschwunden war, da wurde die kalte Hand mit
einemmal warm und lebendig und in der bleichen Gestalt erblickte der Jäger eine
liebliche Jungfrau. Die lächelte ihn an und sprach: »Du hast mich aus einem
schweren Bann erlöst, und weil du so treulich hast ausgehalten, so sollst du
belohnt werden.« Sie reichte ihm ein Körbchen, und das war das Nämliche, womit
ihn das graue Männchen hatte verführen wollen. Das leuchtete dem Jäger aus dem
finstern Wald heraus, und von da an war er ein reicher Mann und lebte glücklich
und vergnügt bis an sein Ende.
aus: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, gesammelt von Otto Sutermeister, neu bearbeitet von Fritz Gafner, Friedrich Reinhard Verlag Basel.