Ich entdeckte den Büchnerpreisträger Josef Winkler erst jetzt und es musste sogar etwas nachgeholfen werden, also ich schaffte es nur durch professionelle Hilfe. Vielleicht notierte ich mir diesen Namen auf einen Zettel, sagen wir nach einem Telefonat. Später surfte ich vielleicht ein wenig durchs Netz, um mich zu informieren. Dabei bin ich auf folgende Sätze gestoßen: Gestern abend, im Bett auf dem Rücken liegend, stellte ich mir meinen Tod vor. Ich schloß die Hände zum Gegengebet. Und das genügte mir schon. Ich stellte mir dann tagelang diesen Mann vor, der, genau wie ich, schreckliche Angst vor dem Tod hat und der gestern abend, in seinem Bett auf dem Rücken liegend, sich seinen Tod vorstellte und dabei die Hände zum Gegengebet schloß. Ich wollte dann einfach wissen, wie er sich seinen Tod vorstellte und was er gebetet hat, denn ich stellte mir auch vor, dass sein ganze Buch aus diesem Gegengebet bestehen würde. Der Titel des Buches lautet Wortschatz der Nacht und ich kaufte es und meine Vorstellungen wurden übertroffen. Es ist ein rauschhaftes Buch, leidenschaftlich und mit genügend Zorn. Aber auch Sehnsucht und einer überfließenden Liebe. Ich würde jetzt gern seitenlang daraus zitieren, aber aus verschiedenen Gründen beschränke ich mich auf wenige Kostproben.
Rot oder weiß? Öl oder Wasser? Essig oder Galle? Noch während der Soldat mit der Lanze den Brustkorb Jesu aufbricht... reißt er im Traum meine Augen auf. Erschrocken blicke ich auf die Lanze in meiner Brust, ein Freund will sie herausziehen, aber bösartig blicke ich ihn an, sage, daß ich ihn liebe, umklammere mit der rechten Hand die Schneide der Lanze, spüre keinen Schmerz mehr... und stoße mit meiner letzten Kraft die Schneide tiefer in die Brust. Wenn du mir das Leben rettest, nur um dich in mir zu lieben, laß mich bitte sterben, falte deine Hände und blick mir ins bleierne Gesicht. Das Haupt senkt sich auf meine Brust. Die Erntedankkrone fällt zu Boden und rollt vor die Füße der Mutter. Langsam, mit tränenden Augen und einem roten Fleck in der Hüftgegend, geht sie, Weizenkorn für Weizenkorn kauend, den Berg hoch. Sie wird den Gekreuzigten mit dem Brot Gottes füttern... Die Kinder Gottes sind inzwischen Greise geworden.
Rot oder weiß? Öl oder Wasser? Essig oder Galle? Noch während der Soldat mit der Lanze den Brustkorb Jesu aufbricht... reißt er im Traum meine Augen auf. Erschrocken blicke ich auf die Lanze in meiner Brust, ein Freund will sie herausziehen, aber bösartig blicke ich ihn an, sage, daß ich ihn liebe, umklammere mit der rechten Hand die Schneide der Lanze, spüre keinen Schmerz mehr... und stoße mit meiner letzten Kraft die Schneide tiefer in die Brust. Wenn du mir das Leben rettest, nur um dich in mir zu lieben, laß mich bitte sterben, falte deine Hände und blick mir ins bleierne Gesicht. Das Haupt senkt sich auf meine Brust. Die Erntedankkrone fällt zu Boden und rollt vor die Füße der Mutter. Langsam, mit tränenden Augen und einem roten Fleck in der Hüftgegend, geht sie, Weizenkorn für Weizenkorn kauend, den Berg hoch. Sie wird den Gekreuzigten mit dem Brot Gottes füttern... Die Kinder Gottes sind inzwischen Greise geworden.
Josef Winkler, Wortschatz der Nacht, Suhrkamp Verlag, 2013.