Sonntag, 27. April 2014

Himmelsvision



Eine Pfarrerstochter
 Georg Orwell

Es war außerordentlich, wie der Himmel ständig in ihren Gedanken war; und noch ungewöhnlicher war die Gegenwärtigkeit, die Lebendigkeit, mit der sie alles sehen konnte. Die güldenen Straßen und die Tore aus orientalischen Perlen waren für sie so wirklich, als wären sie buchstäblich vor ihren Augen. Und ihre Vision erstreckte sich auf die konkretesten, die irdischsten Einzelheiten. Wie weich die Betten dort oben waren! Wie köstlich das Essen! Die herrlichen seidenen Gewänder, die man dort jeden Morgen frisch anziehen würde! Die Befreiung von Ewigkeit zu Ewigkeit und von Arbeit jeglicher Art! In fast jedem Augenblick ihres Lebens stärkte und tröstete sie ihre Vision des Himmels, und ihre verzweifelten Klagen über das Leben der "armen arbeitenden Menschen" wurden seltsam gemildert von der Befriedigung in der Vorstellung, daß schließlich die "armen arbeitenden Menschen" die hauptsächlichen Bewohner des Himmels waren. Sie hatte da eine Art von Handel abgeschlossen und ihr langes Leben voller Müh und Plage gegen die ewige Seligkeit gesetzt. Ihr Glaube war fast zu stark, wenn das möglich ist. Denn es war eine merkwürdige Tatsache, daß die Sicherheit, mit welcher Mrs. Pinther dem Himmel entgegensah - als eine Art von himmlischem Heim für Unheilbare -, Dorothy mit einem seltsamen Unbehagen erfüllte. ..

Wir kennen Orwell "1984" - ein Roman der mich persönlich auch stark geprägt hat, wir kennen auch Orwells "Farm der Tiere", aber jetzt erst kam die Zeit für die "Pfarrerstochter", die er Anfang der Dreißger Jahre geschrieben hat. Der Titel klingt schwach, doch der Roman ist stark. Orwell kannte sich erstaunlich gut aus in all den klerikalen Fragen, den verschiedenen Richtungen, die die Kirche seiner Zeit in England ging und in Glaubensfragen noch dazu. Es ist eine echte Entdeckung. Er schildert darin auch eigene Erfahrungen, die er als Erntehelfer bei der Hopfenernte machte und aus der Zeit seiner Obdachlosigkeit. Orwell war zeitweise erbärmlich verarmt.

Georg Orwell, Eine Pfarrerstochter, Diogenes 1983.