Montag, 24. Oktober 2016

Gefunden !

Neue Liebe  (Eduard Mörike)

Kann auch ein Mensch des andern auf der Erde
Ganz, wie er moechte, sein?
– In langer Nacht bedacht ich mirs, und musste sagen, nein!

So kann ich niemands heissen auf der Erde,
Und niemand waere mein?
– Aus Finsternissen hell in mir aufzueckt ein Freudenschein:

Sollt ich mit Gott nicht koennen sein,
So wie ich moechte, Mein und Dein?
Was hielte mich, dass ichs nicht heute werde?

Ein suesses Schrecken geht durch mein Gebein!
Mich wundert, dass es mir ein Wunder wollte sein,
Gott selbst zu eigen haben auf der Erde!


Neue Liebe, aus: Sämtliche Werke, Max Hesses Verlag, Leipzig 1905.


Montag, 12. September 2016

Der Mensch aber

Aurora oder Morgenröte im Aufgang

Schon vor vielen Jahren wollte ich Jacob Böhme lesen, doch bis jetzt kam es nicht dazu. Anfänge gab es schon. Der Trailer (s.u.) hat mich wieder daran erinnert und mehr noch - er hat durch seine besondere Art etwas Inspirierendes. Hab mir heute den ganzen Film bestellt und mit der Lektüre von Aurora begonnen. Einige Zitate werden wieder als Brosamen aus dem Buch fallen:

aus der Vorrede:

14. Nun gleichwie in der Natur Gutes und Böses quillet, herrschet und ist, also auch im Menschen. Der Mensch aber ist Gottes Kind, den er aus dem besten Kern der Natur gemacht hat, zu herrschen in dem Guten und zu überwinden das Böse. Ob ihm gleich das Böse anhanget, gleichwie in der Natur das Böse am Guten hanget, so kann er doch das Böse überwinden. So er seinen Geist in Gott erhebet, so quillet in ihm der Heilige Geist und hilft ihm siegen. 


96. Es ist aber der Geist des Menschen nicht allein aus den Sternen und Elementen herkommen, sondern es ist auch ein Funke aus dem Licht und Kraft Gottes darinnen verborgen. Es ist nicht ein leer Wort, das in Genesis (1,21) stehet, Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, ja zum Bilde Gottes schuf er ihn; denn es hat eben den Verstand, daß er aus dem ganzen Wesen der Gottheit ist gemacht worden.

97. Der Leib ist aus den Elementen, darum muß er auch elementische Speise haben. Die Seele hat ihren Ursprung nicht allein vom Leibe. Und ob sie gleich in dem Leibe entstehet und ihr erster Anfang der Leib ist, so hat sie doch ihren Quell auch von außen in sich durch die Luft; auch so herrschet darinnen der Hl. Geist nach Art und Weise wie er alles erfüllet und wie in Gott alles ist und Gott selber alles ist.

98. Darum, weil der Hl. Geist in der Seelen kreatürlich ist als der Seelen Eigentum, so forschet sie bis in die Gottheit auch in der Natur; denn sie hat aus dem Wesen der ganzen Gottheit ihren Quell und Herkommen. Wenn sie vom Hl. Geiste angezündet wird, so siehet sie, was Gott ihr Vater machet, gleichwie ein Sohn im Hause wohl siehet, was der Vater machet. Sie ist ein Glied oder Kind in des himmlischen Vaters Hause.

99. Gleichwie das Auge des Menschen siehet bis in das Gestirne, daraus es seinen anfänglichen Ursprung hat, also auch die Seele siehet bis in das göttliche Wesen, darinnen sie lebet.

aus dem 2. Kapitel:
3. Denn die Sanftmut in der Natur ist eine stille Ruhe, aber die Grimmigkeit in allen Kräften machet alles beweglich, laufend und rennend, dazu gebärend. Denn die treibenden Qualitäten bringen Lust in alle Kreaturen zum Bösen und zum Guten, daß sich alles untereinander begehret, vermischet, zunimmt, abnimmt, schön wird, verdirbet, liebet, feindet.

aus dem 3. Kapitel:

15.Der Sohn aber ist das Herze in dem Vater. Alle Kräfte, die in dem Vater sind, die sind des Vaters Eigentum, und der Sohn ist das Herze oder der Kern in allen Kräften in dem ganzen Vater. Er ist aber die Ursache der quellenden Freuden in allen Kräften in dem ganzen Vater. Von dem Sohn, der da ist des Vaters Herze in allen seinen Kräften, steiget auf die ewige himmlische Freude und quillet in allen Kräften des Vaters. Eine solche Freude, die kein Auge gesehen und kein Ohr gehöret hat und in keines Menschen Herze nie gestiegen ist, wie St. Paulus saget 1.Kor 2,9. 

37. Ihr saget, es sei ein einig Wesen in Gott; Gott habe keinen Sohn. Nun tue die Augen auf und siehe dich selber an: Ein Mensch ist nach dem Gleichnis und aus der Kraft Gottes in seiner Dreiheit gemacht. Schaue deinen inwendigen Menschen an, so wirst du das hell und rein sehen, so du nicht ein Narr und unvernünftig Tier bist. So merke: In deinem Herzen, Adern und Hirne hast du deinen Geist. Alle die Kraft, die sich in deinem Herzen, Adern und Hirne beweget, darinne dein Leben stehet, bedeutet Gott den Vater. Aus derselben Kraft empöret sich dein Licht, daß du in derselben Kraft siehest, verstehest und weißt, was du tun sollst; denn dasselbe Licht schimmert in deinem ganzen Leibe und beweget sich der ganze Leib in Kraft und Erkenntnis des Lichtes, das bedeutet Gott, den Sohn. Denn gleichwie der Vater den Sohn aus seiner Kraft gebäret und der Sohn leuchtet in dem ganzen Vater, also auch gebäret die Kraft deines Herzens, deiner Adern und deines Hirnes ein Licht, das leuchtet in allen deinen Kräften, in deinem ganzen Leibe. Tue die Augen deines Gemütes auf und denke ihm nach, so wirst du es also finden.

aus: Jacob Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, 1612.

Donnerstag, 4. August 2016

Geh über die Dörfer...

Nova

Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. Sei nicht die Hauptperson. Suche die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Sei schlau, lass dich ein und verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. Sei erschütterbar. Zeige deine Augen, wink die andern ins Tiefe, sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem Bild. Entscheide nur begeistert. Scheitere ruhig. Vor allem hab Zeit und nimm Umwege. Lass dich ablenken. Mach sozusagen Urlaub. Überhör keinen Baum und kein Wasser. Kehr ein, wo du Lust hast, und gönn dir die Sonne. Vergiss die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, missachte das Unglück, zerlach den Konflikt. Beweg dich in deinen Eigenfarben, bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird. Geh über die Dörfer. Ich komme dir nach. 

aus: Peter Handke, Über die Dörfer, Dramatisches Gedicht, 1981, Suhrkamp, S. 19.

Sonntag, 19. Juni 2016

Einladung 26. Juni 2016 - 18:00 Uhr

Am So 26. Juni 2016-18:00 Uhr 
im Gemeindesaal der Friedenskirche !!!! liest Hartwig Kluge aus: 

Klaus Kordon - "Krokodil im Nacken" und kommt anschließend mit uns ins Gespräch. Hartwig Kluge ist Aktiver des Zeitzeugenprogramms der DDR und wird auch über eigene Erlebnisse berichten. 


Zum Roman: Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis: »Das wichtigste deutsche Jugendbuch in diesem Herbst!« DER SPIEGEL
Das Meisterwerk von Klaus Kordon. Erzählt wird die bewegende Lebensgeschichte von Manfred Lenz, der nach einem missglückten Fluchtversuch aus der DDR ein Jahr in Stasi-Gefängnissen verbringt. Ein Zeitpanorama, wie es spannender nicht sein könnte.
Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, Zelle 102. Hier sitzt Manfred Lenz. Seine Frau Hannah ist ebenfalls inhaftiert, die Kinder Silke und Michael sind im Heim untergebracht worden. Ein missglückter Fluchtversuch aus der DDR hat die Familie auseinander gerissen. Die Zeit im Gefängnis bedeutet Einsamkeit, Schikanen und endlose Stasi-Verhöre. In seiner Isolation lässt Manfred Lenz sein bisheriges Leben Revue passieren: Die Kneipe am Prenzlauer Berg, in der er nach dem Krieg aufgewachsen ist, der Einmarsch der sowjetischen Truppen auf dem Potsdamer Platz, der Tod der Mutter, das Kinderheim, das Jugendwohnheim - und dann die nur ein paar hundert Meter entfernte Grenze nach Westberlin.
Der große Roman erzählt mit bestechender Authentizität deutsch-deutsche Zeitgeschichte.

Donnerstag, 16. Juni 2016

Wie ein Festgewand

Jesus Sirach  (2.Jh. v.Chr.)

Laß deine Füße von der Weisheit fesseln
 und ihr Halseisen dir um den Hals legen.
Beuge deine Schultern, nimm sie auf dich.
 und sperre dich nicht gegen ihr Bande.
Wende dich ihr zu von ganzer Seele
 und halte ihre Wege ein mit aller deiner Kraft.
Forsche nach ihr und suche sie, so wirst du sie finden.
 und wenn du sie ergriffen hast,
 so laß sie nicht mehr los.
Denn am Ende wirst du Trost an ihr haben,
 und dein Leid wird in Freude verwandelt werden,
und ihre Fesseln werden zum starken Schutz
 und ihr Halseisen zum herrlichen Schmuck für dich.
Denn ihr Joch wird zum goldenen Stab
 und ihre Bande zu Purpurbändern.
Wie ein Festgewand wirst du sie anziehen
 und als schöne Krone sie dir aufsetzen. -


Jesus Sirach 6, 25-32, in: Apokryphe Schriften. Nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers (rev. Text) 1971 Württemberische Bibelanstalt Stuttgart. 

Dienstag, 10. Mai 2016

Saure Trauben, stumpfe Zähne

Roter Flieder von Reinhard Kaiser-Mühlecker

Normalerweise lasse ich mich nicht von großen epischen Familiendramen, selbstverständlich über mehrere Generationen reichende, sechshundert Seiten lange, auserzählte, detailverliebte, rauschaft erzählte und zu lesende etc. einfangen, aber Kaiser-Mühlecker hat es doch geschafft.

"Roter Flieder" ist ein Meisterwerk, das uns nicht nur in den Kosmos einer Familie eintauchen lässt, sondern uns zudem über sechshundert Seiten lang eine Frage auferlegt: vererbt sich Schuld. Denn der NS Ortsgruppenführer Goldberger hat Schuld auf sich geladen und andere haben ihn dafür verflucht. Aber hat ihn auch Gott verflucht? Straft Gott bis ins siebte Glied oder ist das inzwischen alter Aberglaube, überflüssige Rede vom zornigen Gott, die längst abgelöst worden ist vom Glauben an den gnädigen. Oft genug erinnerte ich mich an die Bibelstelle beim Propheten Hesekiel: "Was habt ihr unter euch im Lande für ein Sprichwort: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden". So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel." (Hes 18,2)

Auch er (Paul Goldberger) glaubte an manches, was nicht durch Vernunft oder Erfahrung zu erklären war. Und eigentlich waren es sogar diese Dinge, die die wichtigsten, bestimmenden in seinem Leben waren. Doch für Phänomene, die man im Grunde problemlos erklären konnte, wenn man sich nur ein wenig anstrengte, eine übernatürliche Erklärung heranzuziehen, verabscheute er. Es war nicht Dummheit; es war Wissenwollen, ohne bereit zu sein zu lernen: Es war Faulheit. 

Reinhard Kaiser-Mühlecker, Roter Flieder, Fischer Verlag 2014, S. 503.  

 

Montag, 28. März 2016

Muntermacher Kuhlmann

Seit fünfundzwanzig Jahren begleitet mich der warmherzige, verrückte, begeisterte, geistreiche, überfromme, langmütige, sanfte und doch auch kämpferische Quirinus Kuhlmann (1651-1689) auf meiner kurzen Pilgerreise durchs Leben. Gestern nahm ich ihn nach einem feierlichen Ostergottesdienst wieder zur Hand und las mich fest. Er war Poet und Mystiker und eigentlich auch Märtyrer, denn er wurde schließlich bei einer seiner Missionsreisen in Moskau verbrannt (denunziert von einem Lutheraner). Wenn uns die Welt mit ihren aktuellen Nachrichten und die Menschen, die darin toben, wieder einmal zum Rätsel werden, dann sprechen uns vielleicht gerade die Barockgedichte an. Deshalb hier ein Auszug aus dem Kühlpsalter 5 (80) Dritter Teil: 

Verschling den Tod in unser Hoellenfarth!
Entkerker ernst, vvas eingekerkert vvard!
Stos ab vom Stuhl den Drach in seinem haus:
Befessel ihn im selbstgewekktem graus.
Entreis in uns dem Cherub schvverdt und thor:
Es komm im Sig di Bundeslin empor!
Den andern sei stat unruh ruh geschenkt!
Auf predige den Geistern, di bekraenkt!
Auf, loes uns auf vom Schlaf und der Natur!
Auf, auf! Auf, auf! Es schallt di letzte uhr.   

Steh auf, steh auf! Erschrekk der Hütter schaar!
Steh auf in uns! Hinweg ist di gefahr!
Der Tod ist todt! Das Grab des Grabs ist da!
Triumf, Triumf! Triumf! Halleluja! 
Dein Engel bring die Auferstehungs-post!
Ich schmeck in dir, du mir die neue kost!
Auf, sigle auf dreieinig alle ding!
Versigle mich mit deines Geistes Ring.
Du hast in mir mich ewigst dir vertraut.
Du bleibest mein; ich bleibe deine Braut.

Freitag, 25. März 2016

Karfreitagsgebet

Hildegard von Bingen

Schmerzliche Pilgerschaft

Ich irre umher im Schatten des Todes
als Pilger im fremden Land;
mein Trost ist das Ziel der Wanderschaft

Gefährtin der Engel sollte ich sein,
dein lebendiger Hauch, o Gott, im Lehm.
Müßt ich dich nicht erkennen und spüren?

Weh mir, mein Zelt hat nach Norden 
das Auge des Leibes gerichtet!
Gefangen wurde ich dort und -ach!
des Lichtes beraubt und der Freude am Wissen,
mein ganzes Gewand ward zerissen !
Aus meinem Erbe vertrieben
führte man mich in die Knechtschaft

Wo bin ich, wie kam ich hierher?
Wer tröstet mich in der Gefangenschaft?
Wie kann ich diese Ketten zerreißen?
Wer schaut wohl nach meinen Wunden,
wer salbt sie mit Öl und erbarmt sich?

O Himmel, erhöre mein Rufen,
du Erde bebe vor Trauer mit mir!
Ein Fremdling bin ich ohn' Trost und Hilfe. 

Donnerstag, 17. März 2016

Stundenbuch

Rainer Maria Rilke

Erstes Buch

Das Buch vom mönchischen Leben (1899)


Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann –
und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß,
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...


Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.




Dienstag, 8. März 2016

Requiem aeternam deo

Friedrich Nietzsche - Der tolle Mensch

Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: "Ich suche Gott! Ich suche Gott!"
Da dort gerade viele von denen zusammen-standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? 

Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? - so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. "Wohin ist Gott?" rief er, "ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?
Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?

Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet - 
wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat - und wer nun immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. "Ich komme zu früh", sagte er dann, "ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert - es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne - und doch haben sie dieselbe getan!" - Man erzählt noch, dass der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedenen Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: "Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Gräber und die Grabmäler Gottes sind?"



aus: Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft.

p.s. ich liebe diesen Text. Er hat trotz der Zweifel, die er klar ausspricht, meinem Glauben nie geschadet. Im Gegenteil. 

Montag, 8. Februar 2016

Einladung: Musik und Wort zur Passion

Passionszeit: Nacht der Seele, der Gottesferne- und finsternis für Christus am Kreuz und für alle, die ihm nachfolgen in Gedanken des Zweifels, Musik der Angst. Doch im Klang der Verzweiflung ist noch Sehnsucht, manchmal Trost. 

Jean Paul entwirft in seinem Ersten Blumenstück – Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei die schrecklichen Szenen eines Albtraumes, die genau diese Passionsangst zum Ausdruck bringt. Sein Christus spricht: „Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein Schatten wirft, und schaute den Abgrund und rief: Vater, wo bist du? Aber ich hörte nur den ewigen Sturm...“

Diese Nacht der Seele ist auszuhalten; ebenso die Gedanken eines großen Zweiflers, Friedrich Nietzsche, der seinen tollen Menschen einsam durch die Straßen laufen lässt, beladen mit tausend Fragen, die er uns stellt. 

So fragt auch Pessoa voller Sehnsucht: „Wo ist Gott, auch wenn er nicht existiert? Beten will ich und weinen, Verbrechen bereuen, die ich nicht begangen habe, Vergebung genießen wie eine nicht wirklich mütterliche Liebkosung.“


C.P.E. Bach: Rondo a-moll Wq 56, W.A. Mozart: Rondo a-moll KV 511, F. Schubert: Moment musical cis-moll op.94 Nr.4, Enno Kastens Hab keine Angst und Ins Innere, F. Mompou: Angelico, aus: Musica Callada.
Texte von Jean Paul: Rede des toten Christus, aus: Blumenstücke, Friedrich Nietzsche: Der tolle Mensch und Fernando Pessoa, Auszüge: Buch der Unruhe.

mit Manuela Fuelle, Texte
Enno Kastens, Hammerklavier


Musik und Wort zur Passion„Rede des toten Christus“ (Jean Paul)
Sonntag, 28.02.2016 – 17.00 h
Friedenskirche Freiburg (Hirzbergstr.1, FR-Wiehre)
Eintritt frei - Spende erbeten


Mittwoch, 13. Januar 2016

Epiphanien

Vor 75 Jahren starb der größte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, krank und nach all den Jahren der harten Schreibarbeit und des für ihn ebenso harten Existenzkampfes – erschöpft. Abermals - wegen des Zweiten Weltkriegs + des durch deutsche Truppen besetzte Frankreich – musste er weiter ziehen, zurück nach Zürich, wo er mit seiner Familie schon einige Jahre zuvor gelebt hatte. 
Am 13. Januar 1941 ist er dort – nur knapp einen Monat nach Ankunft – gestorben. Jeder der mich kennt, der weiß auch, wie sehr ich James Joyce verehre. Doch was soll er hier auf diesem Blog, der angeblich nur vom Dialog zwischen christlicher Religion und Literatur handelt. Dies ist nun eine Entdeckung (wenn mich mein Gedächtnis nicht schon wieder täuscht) dieser Tage. Alles von Joyce habe ich als säkulare Literatur gelesen. Nun trat aber beim Wiederlesen von Dubliner eine Lesart hinzu, denn zum ersten Mal wurde mir wirklich bewusst, dass die Geschichten ständig von Priestern und anderen Sündern erzählten, beinahe als wäre hier noch ein Jesuit am Werke. Man sollte nicht vergessen, dass Joyce vom sechsten Lebensjahr an Jesuitenschulen besucht hat, die sein theologisches Denken etwa ein Jahrzehnt lang schulten. Um die Eitelkeit der Welt ginge es in Dubliner, aber auch um die Lähmung, den Stillstand des Lebens. Doch es ist - wie bei JJ immer - mehr drin (nein, nicht dahinter). 


Gerade die Geschichte Gnade, eine der fünfzehn Episoden, hat es in sich. Alle zeichnen das Dunkel, die vergeblichen Versuche der Helden ihrer Dubliner Gefangenschaft zu entkommen. Oder löst sich die bittere Weltsicht in Gnade doch auf? Ich bin noch auf der Suche nach einer klaren Deutung. Bei meinen Recherchen zu Dubliner (quer durch die Biographien von Ellmann, Paris & Co, auch der schlechten von Rademacher) fand ich bei J. Paris dann ein beachtenswertes System (wieder?) und zwar: die ersten Kindheit und Jugendnovellen beschreiben den Zerfall der Kardinaltugenden Glaube, Liebe, Hoffnung; die folgenden sieben Geschichten kreisen um die sieben Todsünden: Hochmut, Geiz, Unzucht, Neid, Zorn, Völlerei und Trägheit. Dann versinkt Dublin in der vollständigen Nacht und die Tugenden Kraft, Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Weisheit gehen unter. 

Was soll ich sagen. Es klingt etwas übertrieben, aber erstens, James Joyce ist es zuzutrauen, zweitens, es kommt irgendwie hin. Mir bleibt nur noch ein Zitat, doch für heut genug. 
   

Montag, 4. Januar 2016

Aus dem Paradieschen

Willkommen im Neuen Jahr, 


das in der Realität mit dem Zuspruch von Trost (Jahreslosung Jes 66,13 "Gott spricht: ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet" dazu später mehr) langen Spaziergängen, aber auch Schreckensnachrichten und Rohrbrüchen begann. Um der Sehnsucht nach dem Paradies Herr zu werden (sagt man das noch so?) kaufte ich ein neues Regal für meine kleine Bibliothek. Dann räumte ich das Zimmer auf und baute das Regal auf und ein.

Allein durch diese minimalen Handlungen und etwas Lektüre geströstet, grüße ich aus meinem Paradieschen mit einem meiner Lieblingszitate:





Jorge Luis Borges: 
“Das Paradies habe ich mir immer als eine Art 
            Bibliothek vorgestellt.”