Mittwoch, 4. Februar 2015

Aus der Normzentrale

Schöne neue Welt

Im Geographiesaal erfuhr Michel, daß "eine Wildreservation eine Gegend ist, die wegen ungünstiger klimatischer oder geologischer Verhältnisse oder der Armut an Bodenschätzen die Kosten der Zivilisierung nicht lohnt". Ein Klicken, das Schulzimmer verdunkelte sich, und auf der Leinwand über dem Kopf des Lehrers erschienen plötzlich die Büßer von Acoma, die sich vor Unserer Lieben Frau niederwarfen, winselnd, wie Michel selbst sie winseln gehört hatte, und die vor Jesus am Kreuz und dem Adlerbild Pukongs ihre Sünden bekannten. Die Schüler brüllten vor Lachen bei diesem Anblick. Noch immer winselnd erhoben sich die Büßer, warfen ihre Hemden ab und begannen, sich mit geknoteten Geißeln zu schlagen. Das Gelächter wurde noch einmal so laut und übertönte sogar die verstärkte Wiedergabe ihres Ächzens und Stöhnens. "Warum lachen sie?" fragte der Wilde betroffen. "Warum?" Breit grinsend wandte sich der Schulleiter ihm zu. "Warum? Weil das unerhört komisch ist."     

aus: Aldous Huxley, Schöne neue Welt, 1953, Fischer Taschenbuch (OT Brave new Wold).

Schöne neue Welt spielt im Jahre 632 "nach Ford" in einer Wohlstandsgesellschaft, die an die Stelle Gottes und der Religion die Idee von Massenproduktion -und Konsum stellt. "Gemeinschaftlichkeit", "Einheitlichkeit" und "Beständigkeit" lautet die Parole. Sport, Sex, die Soma-Drogen und ein grausames Erziehungssystem der Flaschenkinder, die nicht mehr geboren, sondern nur noch entkorkt werden, lassen den Kastenmenschen zurück in einer infantilen Gefühlswelt. Drei Außenseiter treffen aufeinander und suchen einen Weg aus der vorprogrammierten Welt.

Aldous Huxley (1894-1963) arbeitete als Journalist und Kunstkritiker. Von der buddhistischen Lehre beeinflusst entwickelte er sich nach dem Ersten Weltkrieg vom amüsiert beobachtenden Satiriker zum leidenschaftlichen Reformator, der die Welt durch eine universale mystische Religion zu heilen versuchte.