Samstag, 7. März 2015

Das Drama des ehrgeizigen Jüngers

Amos Oz: Judas

„Dies ist die Geschichte der Wintertage Ende des Jahres 1959, Anfang 1960. In dieser Geschichte gibt es Irrtum und Lust, es gibt enttäuschte Liebe, und es gibt so etwas wie die Frage nach Religiosität, die hier unbeantwortet bleibt. An manchen Häusern sind die Zeichen des Krieges noch zu erkennen...“ Mit diesen Worten beginnt Amos Oz seinen Roman Judas. Wir befinden uns demnach sofort im Programm der Bestseller: für jeden was dabei. Weiterhin wie erwartet: perfekter Aufbau, klar umrissene Helden mit kleinen Macken, durcherzählte Handlung, metaphernreiche Sprache, genügend Wiederholungen und der typische ausführlich erklärende Erzählstil. Das mag für jedermann leicht lesbar sein, für mich bedeutet es harte Arbeit. Doch ich bleibe dran, wegen Judas und dem, was A.O. mit ihm anstellen wird.

Zurück zur Handlung oder geht’s auch genauer? Der junge Held Schmuel Asch befindet sich (selbstverständlich) in einer Krise: Ende der bestehenden Beziehung, Abbruch des Studiums, Entfremdung in der Familie, Einsamkeit, Aufgabe der politischen Ambitionen, Rückzug aufs Land. Damit ist das Scheitern komplett, die Krise erreicht den Grad der Vollkommenheit.

Interessant ist nun, dass der Rückzug des jungen Mannes in das „abgeschlossene Haus“ Ataljas, die Schmuel als Gesellschafter für ihren Schwiegervater, den alten gehbehinderten Herrn Wild, anstellt, nicht das Ende seiner Studien bedeutet. Im Gegenteil. Schmuel wird durch die intellektuellen Gespräche mit Gerschom Wild und der geheimnisvollen Geschichten, die sich um Atalja, ihren im Krieg gefallenen Mann und ihren verstorbenen Vater Schealtiel Abrabanel ranken, inspiriert. Sein Thema: Jesus in den Augen der Juden bleibt sein Forschungsthema. Die Geschichte der Judasrezeption wird historisch-kritisch (für uns sogar chronologisch) erzählt, läuft parallel zur erzählten Geschichte des politischen Verräters Abrabanel. Und gipfelt schließlich in eine fiktive Rede des Verräters selbst. Diese Judasrede am Ende des Buches enthält einen Perspektivwechsel, denn der Leser lernt Judas von einer ganz anderen Seite kennen. So wird Judas erlöst von dem plumpen, geldgierigen, eifersüchtigen Charakterprofil, ebenso wie von dem kriegerischen, befreiungssüchtigen des Zeloten. Ist das neu? Auch in der christlichen Tradition gibt es Judas als Bruder des Herrn, ohne den es kein Erlösungsgeschehen gegeben hätte. Doch hier wird Judas (etwas überhöht) zum ersten Christen, ja zum einzigen Menschen, der an Jesus wahrhaftig geglaubt hat. Allein sein Glaube war es, der ihn zum Verräter werden ließ, denn Judas wollte mehr für seinen Herrn, Meister, Gott. Seiner Rede zufolge überredete er Jesus nach Jerusalem zu gehen, sich töten zu lassen, um mehr zu werden als ein Heiler und Endzeitprediger vom Lande. Jesus – von Judas als Gott erkannt – sollte gekreuzigt werden, jedoch ohne zu sterben. Als Judas den erbärmlichen Tod Jesu mitansehen muss, als er sieht, dass Jesus nicht triumphierend vom Kreuz herabsteigt, verzweifelt er und nimmt sich das Leben.

Amoz Oz ist Anhänger der Friedensbewegung und der Zwei-Staaten-Lösung, er hat seine Position gefunden. In seinem Roman schafft er vor allem eines: Verständnis für die Sicht des Anderen, den Anderen, den man Verräter nennt, weil er die Gruppe verlässt. Der Dialog zwischen den politischen Gegnern brach ab (Wild und Abrabanel schwiegen jahrelang) aber der Geschichtenerzähler erzählt uns diese Geschichte, damit wir verstehen, was damals geschah, was heute geschieht und indirekt auch: was heute geschehen sollte. Denn noch etwas wird deutlich: alle sind dort Verlorene, Trauernde, Kriegsopfer. Atalja, zuständig in Sachen Liebe, lässt sich auf Affären, doch nicht mehr auf die Liebe ein. Sie bleibt erstarrt, im Zustand der Trauer und Resignation. Und Schmuel Asch, der junge Mann, der seinen Bart ständig mit Babypuder pflegt, der unsicher und tollpatschig ist, wird wenigstens er ein neues Leben beginnen können? Ist er entwicklungsfähig? Ist das überhaupt das Thema?

Dieses Buch wird von sehr vielen Menschen gelesen werden, es wird bilden, aufklären, unterhalten. Die Übersetzung durch Mirjam Pressler wurde mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet. In einem Interview auf der Leipziger Buchmesse sagte Amos Oz, dass er das Buch auch geschrieben hätte, weil auch er oft als Verräter gebrandmarkt worden wäre. Er sieht den "Verräter" aber als jemanden, der auch positive Eigenschaften hat, ja eine positive Funktion hat, denn er möchte Veränderungen hervorrufen; er hält die Erstarrung einer Gruppe nicht aus. Diese Sätze haben mich sehr berührt.

Weitere Informationen auf der Suhrkamp-Verlagsseite

Amos Oz, Judas, Roman Suhrkamp, 2015.