Samstag, 26. Oktober 2013

Goldener Herbst



Theodor Storm (1817 - 1888)

Oktoberlied

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!

Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!

Und wimmert auch einmal das Herz -
Stoß an und lass es klingen!
Wir wissen's doch, ein rechtes Herz
Ist gar nicht umzubringen.

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!

Wohl ist es Herbst; doch warte nur,
Doch warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
Es steht die Welt in Veilchen.

Die blauen Tage brechen an,
Und ehe sie verfließen,
Wir wollen sie, mein wackrer Freund,
Genießen, ja genießen!

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Norwegisches Märchen

Der Gertrudsvogel

Als unser Herr Christus und St. Petrus noch auf Erden einherwandelten, kamen sie einmal zu einer Frau, die bei ihrem Backtrog stand und den Teig knetete. Sie hieß Gertrud und hatte eine rothe Mütze auf. Da beide den Tag über schon weit gegangen und daher sehr hungrig waren, bat der Herr Christus die Frau um ein Stückchen Brod. Ja, das sollte er haben, sagte sie und nahm ein Stückchen Teig und knetete es aus; aber da ward es so groß, daß es den ganzen Backtrog anfüllte. Nein, das war allzu groß, das konnte er nicht bekommen. Sie nahm nun ein kleineres Stück; aber als sie es ausgeknetet hatte, war es ebenfalls zu groß geworden; das konnte er auch nicht bekommen. Das dritte Mal nahm sie ein ganz ganz kleines Stück; aber auch das Mal ward es wieder zu groß. »Ja, so kann ich Euch Nichts geben,« sagte Gertrud: »Ihr müsst daher ohne Mundschmack wieder fortgehen; denn das Brod wird ja immer zu groß.« Da ereiferte sich der Herr Christus und sprach: »Weil Du ein so schlechtes Herz hast und mir nicht einmal ein Stückchen Brod gönnst, so sollst Du zur Strafe dafür in einen Vogel verwandelt werden und Deine Nahrung zwischen Holz und Rinde suchen, und nicht öfter zu trinken sollst Du haben, als wenn es regnet.« Und kaum hatte er die Worte gesprochen, so war sie zum Gertrudsvogel verwandelt und flog oben zum Schornstein hinaus; und noch den heutigen Tag sieht man sie herumfliegen mit einer rothen Mütze auf dem Kopf und schwarz über dem ganzen Leib; denn der Ruß im Schornstin hatte sie geschwärzt. Sie hackt und bickt beständig in den Bäumen nach Essen und piept immer, wenn es regnen will; denn sie ist beständig durstig.


Peter Christen Asbjörnsen und Jörgen Moe, Norwegische Volksmährchen I-1847. Gedruckt bei Julius Sittenfeld in Berlin. Mit einem Vorwort von L.Tieck.

Samstag, 12. Oktober 2013

Evangelischer Buchpreis 2013

Jenny Erpenbeck erhielt für ihren Roman Aller Tage Abend in diesem Jahr den Evangelischen Buchpreis und man könnte denken, naja, sie hat ja auch andere Preise dafür bekommen, dann kann sie doch den Evangelischen Buchpreis noch dazu haben. Solche Sachen kommen ja vor. Doch nun, wo ich endlich die Zeit gefunden habe, diesen Roman zu lesen, stelle ich fest: dieser Preis ging verdientermaßen an JE und ihren wunderbaren Roman.
Aller Tage Abend bespricht viele Lebensthemen wie Liebe und Freundschaft, Bündnis und Verrat, Hingabe und Untreue, Heimat und Heimatverlust, Politik, Krieg und Verlust mit äußerster Sensibilität. Religiösität oder vielmehr die religiöse Dimension ist beinahe der rote Faden, der sich durchs Buch zieht. Man erkennt das nicht allein an den eingeflochtenen Bibelzitaten oder der jüdischen Herkunft oder katholischen Erziehung einzelner Helden. Warmherzig, tiefsinnig und humorvoll wird hier erzählt und bei all dem noch ein Experiment gewagt. Ich fand Jenny Erpenbeck schon früher gut, jetzt finde ich, sie ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen in der deutschen Gegenwartsliteratur.
Mit diesen Worten beginnt der Roman: Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, hatte die Großmutter am Rand der Grube zu ihr gesagt. Aber das stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war - auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde. Drei Handvoll Erde... Dreimal lässt die Erzählerin ihre Heldin sterben, doch dreimal auch wieder auferstehen. Vom Ende her wird hier erzählt. Gegen den Tod.   

Jenny Erpenbeck, 1967 in Ost-Berlin geboren, absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung als Buchbinderin und studierte Theaterwissenschaften. Neben der Regiearbeit an verschiedenen Theatern debütierte sie 1999 als Schriftstellerin mit der „Geschichte vom Alten Kind“. Ihre Prosa wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis und dem Heimo von Doderer-Literaturpreis, beide 2008 für den Roman „Heimsuchung“.

Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend, Knaus, 2013.

Sonntag, 6. Oktober 2013

Und doch ist einer ...

Rainer Maria Rilke

Herbst

Die Blätter fallen,
fallen wie von weit, 
als welkten in den Himmeln ferne Gärten; 
sie fallen mit verneinender Gebärde. 
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit 
Wir alle fallen. diese Hand da fällt
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.




Rainer Maria Rilke, Herbst, Insel Taschenbuch, Frankfurt 2012.