Donnerstag, 24. Januar 2013

"Zur wirklichen Wirklichkeit"


Denkt an die Gefangenen, weil auch ihr Gefangene seid; 
denkt an die Misshandelten, weil auch ihr Verletzliche seid.
Hebräer 13,3
Dazu fällt mir Wolfgang Herrndorfs Sand ein. Gerade erst gelesen. Ein Agententhriller der etwas anderen Art, verwirrend schön, brutal realistisch. Allerdings, was ist realistisch. Die Welt als gottverlassener, verfluchter Ort. Die Welt als Wüste? Als absurdes Theater? Wir Idioten sind umzingelt von Idioten. Für den Helden des Buches, den Mann ohne Gedächtnis, wird diese Art Welt zur einzigen Wirklichkeit. Er ist wie der leidende Gerechte, ein Misshandelter. Verfolgter. Verlorener.

Dem Autor würde der fließende Gedankengang vom Bibelwort zu seinem Werk und wieder zurück nicht gefallen, wenn er davon wüsste. Er hält sich und anderen eher die Grundirrtümer und leeren Versprechen jeder Religion vor Augen, als ihr die Existenzberechtigung zu lassen. Aber was solls, der Gedankengang ist nunmal in der Welt - ab jetzt. Und mir wird deutlich, was ich an Herrndorf seit Jahren schätze - nämlich nicht allein, dass er so klug und witzig ist- sondern vor allem: Literatur als Schmerzerfahrung. Dies ist vielleicht sein eigentliches Markenzeichen, und zwar nicht erst seit er - schwer erkrankt - sein Klagebuch Arbeit und Struktur schreibt, sondern von Anfang an.

Der erste Satz des Romans wird im Laufe der Handlung immer entschiedener zum Programm: "Auf der Lehmziegelmauer stand ein Mann mit nacktem Oberkörper und seitlich ausgestreckten Armen, wie gekreuzigt." Wie gekreuzigt. Wie gekreuzigt. Wie ein Echo hat mich dieser Satz verfolgt.