25. Jahre Mauerfall
Dazu einige Auszüge aus der Kurzgeschichte Verheißung
Was der Osten war
Ich hatte Freunde. Wir
trafen uns in derselben Kirche, obwohl wir in der ganzen Stadt
verteilt wohnten. Bald wohnten wir gemeinsam, getrennt, gemeinsam.
Wir lasen alle Bücher gemeinsam, getrennt, gemeinsam. Die verbotenen
Bücher machten in unserem Freundeskreis die Runde. Alle lasen den
Zarathustra und 1984 lasen alle Orwells 1984. Danach
fühlten wir uns nicht mehr sicher in der Stadt. Also zogen wir aufs
Land und schafften zunächst mal Hühner an. Es gab kaltes Wasser auf
dem Hof, das wir in eine weiße Emailleschüssel pumpten und auf den
Herd stellten, um es anzuwärmen. Wenn wir beim Abwaschen noch zwei
Schüsseln dazustellten, dachte ich an meine Oma. Aber nur kurz.
Niemand von uns hatte an Gummihandschuhe und Ärmelschoner gedacht.
Man wollte lieber Gitarre spielen, diskutieren und den Staat im
Staate gründen. Fern ab von der Staatssicherheit. Unsere Ausweise
wollten wir dem Staat schenken. Irgendwann.
Es gab eine
Gemeinschaftsbibliothek und genaue Absprachen darüber, wer wann
welches Buch aus dem Westen besorgen könnte. Eines Tages sagte mein
Freund, die wissen von unserer Bibliothek, einer von uns hat uns
verraten. Dem Osten konnte man nicht entkommen. Er war überall in
diesem Land. Wir beschlossen das Landleben aufzugeben. Wer nicht
Musik machen wollte, begann schließlich Theologie zu studieren.
1986 legte sich meine
Westoma in ihrem Seniorenheimzimmer ins Bett, um nicht mehr
aufzustehen. Für eine Übersiedlung war es lange schon zu spät. Sie
sei zu verwirrt gewesen. Mein Vater erhielt keine Reiseerlaubnis, um
sich an das Bett seiner Mutter setzen zu können. Erst als man ihr
Bett in Sterbebett umbenannte, durfte er über die Grenze und
sogar an dieses Sterbebett treten, ihre nackte Hand umschließen bis
der Tod sie ihm für immer entzog. Er stand verwaist und kinderlos
auf der Beerdigung seiner Mutter, denn wir hatten keine
Reiseerlaubnis erhalten. Erst später, als mein Vater zurück war,
bekamen wir sie. Ich staunte, was meine Westoma nach ihrem Tode noch
alles durchsetzen konnte. Wir durften rüber. Eine nach der andern.
Ich hatte verstanden.
Rechts die Mauer, links
die Mauer und ich in der Mitte durch.
Die Luft im Westen war
anders, selbst in Hannover. Ich lief dort tagsüber durch die Museen,
Buchhandlungen und Antiquariate, und nachts ging ich ins Kino oder
hockte mit meinen neuen Freunden in Kneipen. Meine neuen Freunde
waren Buchhändler und Museumswärter, Kellner oder Studenten, die
mir ihre Telefonnummer gaben oder ein Essen in der Mensa spendierten.
Ich konnte die Seife meiner Oma an ihren Händen riechen, während
sie versuchten mir die Augen zu öffnen.
Die Universität in
Hannover war sehr schön. Noch nie hatte ich eine solche Universität
gesehen. Sie erinnerte mich an die EWU, die Einzig-Wahre-Universität,
die wir im Osten immer gründen wollten. Irgendwann. Im Westen gab es
nicht nur zwei Studienfächer, Theologie und die andern. Man konnte
alles studieren. Man konnte ein richtiges Philosophiestudium
aufnehmen. Man konnte alle Bibliotheksbücher entleihen. Ich nahm
eine andere Haltung an und atmete tief durch. Frei, dachte ich, hier
wäre man wirklich frei. Aber, wem würde ich die neuen Bücher
zeigen, mit wem würde ich die Bücher lesen. Gemeinsam, getrennt und
gemeinsam. Ich fühlte mich noch nicht reif für eine eigene
Bibliothek. Ein eigenes Kapital. Plötzlich sehnte ich mich nach
meinen alten Freunden. Und die Tante rief, das ist doch kein Hotel
hier. Ich musste ihr recht geben.
Berlin. Drei Jahre
später. Links die Mauer, rechts die Mauer und wir alle in der Mitte
durch.
Was der Westen
ist
Der Westen ist hier
beinahe allgegenwärtig, und wir geben so ziemlich alles, um dieser
Tatsache gerecht zu werden. Dafür ziehen wir durchs Land, dafür
arbeiten wir, wo andere Urlaub machen. Ich habe jetzt eine eigene
Bibliothek, einen eigenen Mann und ein eigenes Kind. Und die eine
oder andere Seife erinnert mich noch an den verheißungsvollen
Geruch, der dem geöffneten Koffer meiner Oma Sommer für Sommer
entstieg.
Was der Osten ist
Der Osten ist jetzt nur
noch eine Himmelsrichtung.
aus: Manuela Fuelle, Verheißung, in: Adieu. Geschichten von Abschied und Aufbruch, Hg. von Arnd Brummer, edition chrismon 2014.