Montag, 17. November 2014

Sterben hat seine Zeit

Früher gab es Rituale für das Sterben, früher war das Sterben Teil des Lebens. Jetzt findet es so abgesondert statt, dass im alltäglichen Leben davon nichts mehr sichtbar wird, Sterben - ein unbekannter Kontinent...
In der Schule bekomme ich konferenzfrei. In der Pause sagt eine Kollegin: Ich habe gehört, deiner Mutter geht es nicht gut. Ich sage: Sie stirbt. Und die Kollegin antwortet: Das hast du vor vierzehn Tagen auch schon gesagt. Alle scheinen zu glauben, das Sterben sei auf einen Moment reduziert, auf den Moment des Todes, und vorher sei alles unbedeutend. 
Was ich jetzt erfahre: Das Sterben kann ein Weg sein, und immer mehr wünsche ich, der Tod wäre nur ein Durchgang auf diesem Weg hinaus...   

Sonntag 23. November 2014 - 18:00 Uhr
Birgit Heiderich liest aus ihrem Roman
"Sterben hat seine Zeit"

In ihrem Roman "Sterben hat seine Zeit" setzt sich Birgit Heiderich mit dem Sterben der Mutter aus Sicht der Tochter auseinander. Sie wagt es, den Blick nicht abzuwenden, nichts zu verschleiern, was zu zeigen, zu hören, zu sehen und zu ertragen ist, wenn ein Mensch - und eine Mutter dazu - langsam stirbt.   

"Das ist ein wunderbares Buch!
Alles mit dem Körper geschrieben. So wurde das Sterben 
noch nie buchstabiert. Das kann nur die Liebe"
Martin Walser

Birgit Heiderich studierte Pädagogik, Theologie und Philosophie und war Mitglied der legendären Tübinger "Gruppe 547" um Walter Jens. Sie lebt in Freiburg.   

So 23.11., 18:00 I Friedenskirche Freiburg, Hirzbergstraße 1 I Gemeindesaal I Eintritt frei


Sonntag, 9. November 2014

Und wir in der Mitte durch

25. Jahre Mauerfall 

Dazu einige Auszüge aus der Kurzgeschichte Verheißung

Was der Osten war

Ich hatte Freunde. Wir trafen uns in derselben Kirche, obwohl wir in der ganzen Stadt verteilt wohnten. Bald wohnten wir gemeinsam, getrennt, gemeinsam. Wir lasen alle Bücher gemeinsam, getrennt, gemeinsam. Die verbotenen Bücher machten in unserem Freundeskreis die Runde. Alle lasen den Zarathustra und 1984 lasen alle Orwells 1984. Danach fühlten wir uns nicht mehr sicher in der Stadt. Also zogen wir aufs Land und schafften zunächst mal Hühner an. Es gab kaltes Wasser auf dem Hof, das wir in eine weiße Emailleschüssel pumpten und auf den Herd stellten, um es anzuwärmen. Wenn wir beim Abwaschen noch zwei Schüsseln dazustellten, dachte ich an meine Oma. Aber nur kurz. Niemand von uns hatte an Gummihandschuhe und Ärmelschoner gedacht. Man wollte lieber Gitarre spielen, diskutieren und den Staat im Staate gründen. Fern ab von der Staatssicherheit. Unsere Ausweise wollten wir dem Staat schenken. Irgendwann.
Es gab eine Gemeinschaftsbibliothek und genaue Absprachen darüber, wer wann welches Buch aus dem Westen besorgen könnte. Eines Tages sagte mein Freund, die wissen von unserer Bibliothek, einer von uns hat uns verraten. Dem Osten konnte man nicht entkommen. Er war überall in diesem Land. Wir beschlossen das Landleben aufzugeben. Wer nicht Musik machen wollte, begann schließlich Theologie zu studieren.

1986 legte sich meine Westoma in ihrem Seniorenheimzimmer ins Bett, um nicht mehr aufzustehen. Für eine Übersiedlung war es lange schon zu spät. Sie sei zu verwirrt gewesen. Mein Vater erhielt keine Reiseerlaubnis, um sich an das Bett seiner Mutter setzen zu können. Erst als man ihr Bett in Sterbebett umbenannte, durfte er über die Grenze und sogar an dieses Sterbebett treten, ihre nackte Hand umschließen bis der Tod sie ihm für immer entzog. Er stand verwaist und kinderlos auf der Beerdigung seiner Mutter, denn wir hatten keine Reiseerlaubnis erhalten. Erst später, als mein Vater zurück war, bekamen wir sie. Ich staunte, was meine Westoma nach ihrem Tode noch alles durchsetzen konnte. Wir durften rüber. Eine nach der andern. Ich hatte verstanden.

Rechts die Mauer, links die Mauer und ich in der Mitte durch.

Die Luft im Westen war anders, selbst in Hannover. Ich lief dort tagsüber durch die Museen, Buchhandlungen und Antiquariate, und nachts ging ich ins Kino oder hockte mit meinen neuen Freunden in Kneipen. Meine neuen Freunde waren Buchhändler und Museumswärter, Kellner oder Studenten, die mir ihre Telefonnummer gaben oder ein Essen in der Mensa spendierten. Ich konnte die Seife meiner Oma an ihren Händen riechen, während sie versuchten mir die Augen zu öffnen.

Die Universität in Hannover war sehr schön. Noch nie hatte ich eine solche Universität gesehen. Sie erinnerte mich an die EWU, die Einzig-Wahre-Universität, die wir im Osten immer gründen wollten. Irgendwann. Im Westen gab es nicht nur zwei Studienfächer, Theologie und die andern. Man konnte alles studieren. Man konnte ein richtiges Philosophiestudium aufnehmen. Man konnte alle Bibliotheksbücher entleihen. Ich nahm eine andere Haltung an und atmete tief durch. Frei, dachte ich, hier wäre man wirklich frei. Aber, wem würde ich die neuen Bücher zeigen, mit wem würde ich die Bücher lesen. Gemeinsam, getrennt und gemeinsam. Ich fühlte mich noch nicht reif für eine eigene Bibliothek. Ein eigenes Kapital. Plötzlich sehnte ich mich nach meinen alten Freunden. Und die Tante rief, das ist doch kein Hotel hier. Ich musste ihr recht geben.

Berlin. Drei Jahre später. Links die Mauer, rechts die Mauer und wir alle in der Mitte durch.

Was der Westen ist
Der Westen ist hier beinahe allgegenwärtig, und wir geben so ziemlich alles, um dieser Tatsache gerecht zu werden. Dafür ziehen wir durchs Land, dafür arbeiten wir, wo andere Urlaub machen. Ich habe jetzt eine eigene Bibliothek, einen eigenen Mann und ein eigenes Kind. Und die eine oder andere Seife erinnert mich noch an den verheißungsvollen Geruch, der dem geöffneten Koffer meiner Oma Sommer für Sommer entstieg.

Was der Osten ist

Der Osten ist jetzt nur noch eine Himmelsrichtung.

aus: Manuela Fuelle, Verheißung, in: Adieu. Geschichten von Abschied und Aufbruch, Hg. von Arnd Brummer, edition chrismon 2014. 





Sonntag, 2. November 2014

Noch lieber als Romane schreiben

Anders Lagerlöf sagt (und das hat er wohl irgendwo gelesen), wenn man diesen Dom betritt, fühlt man gleich, daß die, die ihn einst am Ende des zwölften Jahrhunderts bauten, durch aus nicht an die Mühe oder die Kosten gedacht haben, sondern nur daran, ein Haus zu bauen, würdig, daß Gott dort wohnt. Und als Anders das sagte, war mir genauso, als fühlte ich Gottes Gegenwart. Er schwebte oben im Gewölbe und sah auf uns herunter, obgleich wir ihn nicht sehen konnten. 
Ich bin noch niemals in eine Kirche getreten, wo man Gottes Gegenwart so deutlich fühlt; aber dieses ist auch die erste Kathedrale, die ich gesehen habe. (Kathedrale ist ein schönes Wort).
Es war ein Samstagvormittag, und so war kein Gottesdienst. Außer uns fünf und dem Kirchendiener, der uns herumführte, war die Kirche vollkommen leer, aber es war sehr feierlich. Ich hätte da drinnen ganz ruhig stehen bleiben und nur immer an Gott denken mögen. 
Anders erzählte mir, wie es früher war, wenn eine Kirche erbaut wurde. Große Abteilungen von Arbeitern haben da gemauert und Steine zugehauen, wohl zwanzig Jahre lang, ja gar fünfzig und hundert Jahre lang, ehe das Gotteshaus fertig war. Und er sagte, man kann jetzt keine schönen Kirchen mehr bauen, weil alle Menschen es so eilig haben und ihre arbeit nicht mehr mit derselben Liebe ausführen, wie das früher der Fall war. Darin hat Anders gewiß recht, und im stillen dachte ich, die Menschen müssen sehr glücklich gewesen sein, die ihr ganzes Leben lang an einer Kathedrale bauen durften. Ich glaube, das würde ich noch lieber tun als Romane schreiben. 

aus: Selma Lagerlöf, Das Tagebuch der Selma Lagerlöf.