Donnerstag, 17. Dezember 2015

Nach dem Weihnachtsmarkt

Nach dem Weihnachtsmarkt möchte Leo ein wenig über seine Berliner Eindrücke mit den Schwestern und der Mutter plaudern, doch es kommt anders. Die sich sorgende Mutter spricht wieder ein ernstes Wort mit dem Luftikus der Familie: 

"Ja, Mutter, das ist es ja gerade; da steckt ja gerade die Hoffnung, und ich muß beinahe sagen die Zuversicht. Wenn das Wunder gestern war, warum soll es nicht auch heute sein oder morgen oder übermorgen."
"Das klingt ganz gut, aber es ist doch nicht richtig. Sich zu Wunder und Gnade so stellen, als ob alles so sein müßte, das verdrießt den, der all die Gnade gibt, und er versagt sie zuletzt. Was Gott von uns verlangt, das ist nicht bloß so hinnehmen und dafür danken - und oft oberflächlich genug - er will auch, daß wir uns die Gnadenschaft verdienen oder wenigstens uns ihrer würdig zeigen und immer im Auge haben, nicht was so vielleicht durch Wunderwege geschehen kann, sondern was nach Vernunft und Rechnung und Wahrscheinlichkeit geschehen muß. Und auf solchem Rechnen steht dann ein Segen."
"Ach, Mama, ich rechne ja immerzu."
"Ja, du rechnest immerzu, freilich, aber du rechnest nachher, statt vorher."

Was mir an dieser Mutter-Rede so gut gefällt ist, dass Fontane hier schon eine Kritik an der sogenannten billigen Gnade entwickelt, die später Dietrich Bonhoeffer entfalten wird.



aus: Theodor Fontane, Die Poggenpuhls, Nymphenburger 1978, S. 325.

Montag, 7. Dezember 2015

Fuelle auf dem Gabentisch !

Liebe Leserinnen und Leser,

da ich viele Stunden im Jahr an diesem privaten Blog arbeite, lade ich meine Leserinnen und Leser ein DANKE zu sagen. Sie können mich und meine Arbeit unterstützen, indem sie meinen Roman "Fenster auf, Fenster zu" kaufen. 

"... damit sie Leben haben, leben in reicher Fuelle" Joh 10,10

Vielleicht suchen Sie gerade ein passendes Weihnachtsgeschenk für die Familie.

Natürlich freue ich mich auf ein Wiedersehen, ich bin ja schon jetzt voller Vorfreude, am liebsten würde ich gleich losfahren zu einem unserer Familienfeste zum Beispiel, und ich hätte es schon vor Augen, alle zusammen an einem Tisch, wie früher. Ein gemeinsames Essen. Essen und Streiten. Oder Essen und Singen. Unser Vater macht diesen wunderbaren Kartoffelbrei aus der Tüte und singt seinen Hirtengesang, und wir sitzen im Kreis um den Elektrokocher...   

aus: Manuela Fuelle, Fenster auf, Fenster zu, Klöpfer&Meyer Verlag, Tübingen. 

Dienstag, 17. November 2015

Lesung am 29. November 2015 - 18:00

LiteraturRaum Kirche

Lesung & Musik in der Friedenskirche !

So 29. November 2015 – 18:00 Uhr
Die Autorin, Übersetzerin und Dozentin Maria Bosse-Sporleder liest neue, noch unveröffentlichte Geschichten und Auszüge aus ihrem Roman „Im fünften Koffer das Meer“

Die Lesung wird von Elisabeth Horzig
am Klavier begleitet

Wenn eine Kindheit in Ortswechseln, Flucht und Fremde ungesichert bleibt, können Erzählungen das Erlebte anders erfinden. Sprache und Phantasie für Lebensläufe belichten die Erinnerungen neu. Die Geschichten von Maria Bosse-Sporleder gewinnen so ihre eigentümliche Leichtigkeit.


Ort: Gemeindesaal Friedenskirche Freiburg
Hirzbergstraße 1, 79102 Freiburg

Eintritt frei - Spende erbeten.

Mittwoch, 28. Oktober 2015

Mut zur Mystik

Johannes Tauler (1300-1361 in Straßburg) forderte seine Brüder und Schwestern auf, mehr Mut zur Mystik zu entwickeln. Ist Mystik nicht etwas für Feiglinge? Nabelschau und Lehre der Hinterweltler? Ich denke, die Mystik benötigt noch heute Mut, Mut zum inwendig starken Glauben, einem Glauben der Friedfertigkeit und Liebe. Bei Tauler kann man den Ernst und die Wahrhaftigkeit seiner Reden beinahe hören, in jedem Fall aber hier lesen:

Corpus mysticum heißt: ein göttlicher Leib, dessen Haupt Christus ist. Dieser Körper besitzt viele Glieder. Das eine ist das Auge: es sieht den ganzen Leib, aber nicht sich selbst: ein anderes ist der Mund: er ißt und trinkt alles für den Leib und nicht für sich selbst: ebenso ist es mit der Hand, dem Fuß und so vielen verschiedenartigen Gliedern. Und jedes hat seine besondere Arbeit, und dies alles gehört zum Leibe und unter das eine Haupt. So ist denn unter der ganzen Christenheit kein Werk und sei es noch so gering und klein, wie etwa das Geläut der Glocken oder der Schein der Kerzen, das nicht zur Vollendung des inneren Werkes diene. 

Ihr Lieben, in diesem mystischen Leibe soll eine ebenso große Einträchtigkeit herrschen, wie ihr sie unter euren eigenen Gliedern herrschen seht: es soll kein Glied, als wenn es nur für sich selber da wäre, den anderen ein Leid oder eine Bedrängnis zufügen: es muß alle gleich sich selbst achten: alle müssen für jeden einzelnen, ein jeder für alle dasein. 

Und sollten wir in diesem mystischen Leibe ein Glied kennen, edler als wir uns selbst wissen, so sollten wir es mehr schätzen als uns selbst. 

aus: Emmanuel Jungclaussen, In den Spuren der Meister, Herder Verlag

Dienstag, 22. September 2015

Losung

Losung und Lehrtext für Dienstag, den 22. September 2015

Die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!
Jesaja 58,7

Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. 
Matthäus 25,35-36 

Montag, 14. September 2015

Arvo Part - De Profundis

Text: "De profundis"

Psalm 130: "De profundis" :  Arvo Pärt

De profundis clamavi ad te, Domine;
Domine, exaudi vocem meam. Fiant aures tuæ intendentes
in vocem deprecationis meæ.
Si iniquitates observaveris, Domine, Domine, quis sustinebit?
Quia apud te propitiatio est; et propter legem tuam sustinui te, Domine.
  Sustinuit anima mea in verbo ejus
Speravit [anima mea in Domino
A custodia matutina usque ad noctem, speret Israël in Domino.
Quia apud Dominum misericordia, et copiosa apud eum redemptio.
Et ipse redimet Israël ex omnibus iniquitatibus ejus.

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: /
Herr, höre meine Stimme! Wende dein Ohr mir zu, / achte auf mein lautes Flehen!
Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, / Herr, wer könnte bestehen?
Doch bei dir ist Vergebung, / damit man in Ehrfurcht dir dient.
Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, / ich warte voll Vertrauen auf sein Wort.
Meine Seele wartet auf den Herrn / mehr als die Wächter auf den Morgen. Mehr als die Wächter auf den Morgen /
soll Israel harren auf den Herrn. Denn beim Herrn ist die Huld, / bei ihm ist Erlösung in Fülle.
Ja, er wird Israel erlösen / von all seinen Sünden.

Samstag, 5. September 2015

Auf der Straße

Nachdem George Orwell seinen Dienst in Burma nach fünf Jahren aus Protest gegen die Kolonialmethoden gekündigt hatte, ging er nach Paris und hungerte sich dort durch, bis er einen Job als Küchenhilfe bekam. Aufgrund der miesen Arbeitsbedingungen siedelte er bald nach London um, doch dort pilgerte er bald von Asyl zu Asyl mit andern Obdachlosen. In seinem Buch Erledigt in Paris und London erzählt er eindrücklich von seinen Erlebnissen Anfang der Dreißiger Jahre.

Für diesen Blog natürlich einen Auszug zum Thema:

Zwei Themen beherrschten all seine Gespräche: die Schande und Erniedrigung, ein Tramp zu sein und die besten Möglichkeiten , an etwas Eßbares umsonst heranzukommen... Jesus! Wie wärsn, wenn wia uns'n Tee in ein von die Klöster da aufm Weg nach Edbury jenehmjen würn? Die jehm eijentlich imma ein aus. Jaja was wär der Mensch ohne Rilljohn, wa? Hab schon Tee jekriecht von die Klöster, von die Baptissn un' von die Kirche von England und so. Bin ja selber Kathole, naja, ich mein ich war siebßehn Jahre nich mea ßur Beichte, aba denk imma noch relijöhß. n Kloster iss imma gut fürn Tee. So ging das meistens den ganzen Tag, meistens ohne Pause. 
Seine Unwissenheit war grenzenlos und verblüffend. Zum Beispiel fragte er mich einmal, ob Napoleon vor Christus gelebt habe oder danach. Ein anderes Mal, als ich mir das Schaufenster eines Buchladens ansah, geriet er völlig durcheinander, weil eines der Bücher hieß: "Wie man Christus nachlebt". Er hielt das für Gotteslästerung. "Was ßum Teufl wolln die Ihn denn nachmachen?" wollte er verärgert wissen. Er konnte zwar lesen, fühlte aber eine Art tiefer Verachtung für Bücher. Auf unserem Weg von Romton nach Edbury ging ich in eine öffentliche Bücherei, obwohl Paddy nichts lesen wollte, schlug ich vor, er könnte doch mit hineinkommen und seine Beine ausruhen. Aber er zog es vor, draußen zu warten. "Nöh", sagter er "die vielen Buchstaben machn mich ja ganz krank."   

George Orwell, Erledigt in Paris und London, Diogenes Verlag 1978.   

Dienstag, 11. August 2015

Viele Stunden bei Tag und bei Nacht

Zufällig fand ich gestern beim Aufräumen des Arbeitszimmers ein Kalenderblatt aus der 13. Woche mit folgendem Zitat:

Meine Mutter liebte die Ritterbücher, und ihr bekam dieser Zeitvertreib nicht so schlecht wie mir ... Ich begann mir die Lektüre anzuge- wöhnen, und dieser kleine Fehler, den ich mir bei ihr abgeschaut hatte, ließ nach und nach mein Trachten nach gottgefälligem Leben einschlafen, so dass ich in allem Übrigen fehlte. Es erschien mir nicht als etwas Schlechtes, viele Stunden bei Tag und bei Nacht mit derart müßiger Beschäftigung zu vergeuden, wenn-gleich ich es meinem Vater verheimlichte. Ich war dermaßen darin gefangen, dass ich keinerlei Zufriedenheit mehr empfinden konnte, wenn ich nicht ein neues Buch hatte. 

Theresa von Avila, Vida, 1565. 

Ich wünsche allen Lesern dieses Blogs eine erholsame Urlaubszeit mit der richtigen Lektüre !!!

Und viel müßiger Beschäftigung bei Tag und bei Nacht !

Sonntag, 26. Juli 2015

Das Herzensgebet

"Was ist die geistliche Gabe der russisch-orthodoxen Welt, was können wir von ihr lernend empfangen?" fragt der Herausgeber Emmanuel Jungclaussen in seiner Einführung. Eine Antwort läge in diesem kleinen Buch vor Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, dessen erster Teil im Jahre 1870 erschien.

Ich zitiere: Wir betraten die Klause, und der Starez sagte folgendes: "Das unablässige innerliche Jesusgebet ist das ununterbrochene, unaufhörliche Anrufen des göttlichen Namens Jesu Christi mit den Lippen, mit dem Geist und mit dem Herzen, wobei man sich seine Anwesenheit vorstellt und ihn um sein Erbarmen bittet bei jeglichem Tun, allerorts, zu jeder Zeit, sogar im Schlaf. Es findet seinen Ausdruck in folgenden Worten: Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner! Wenn sich nun einer an diese Anrufung gewöhnt, so wird er einen großen Trost erfahren und das Bedürfnis haben, immer dieses Gebet zu verrichten, derart, daß er ohne dieses Gebet gar nicht mehr leben kann, und es wird sich ganz von selber aus ihm lösen..." 

Aufrichtige Erzählung eines russischen Pilgers, hg von Emmanuel Jungclaussen, Herder 2014.

Montag, 22. Juni 2015

Feuerballons

Feuerballons oder Können Sie denn nicht einmal ernst bleiben?

Ray Bradburys Episoden von der Besiedelung des Mars haben mehr als eine Science Fiction Generation geprägt, er inspiriert uns bis heute. Sein Stil und seine Geschichten haben etwas zeitloses, aktuelles.

Ich zitiere eine meiner Lieblingsstellen und lade alle Blogleser zur ausführlichen Lesung bei Literaturraum Kirche ein.

"Pater Peregrin, können Sie denn nicht einmal ernst bleiben?"
"Ernst, wenn auch unser gütiger Herrgott es sein wird. Oh, machen Sie bitte nicht so ein schockiertes Gesicht. Der Herr ist nicht ernst. Wirklich, es ist ein wenig schwer für uns zu verstehen, was ER außer Liebe noch alles ist. Und Liebe ist mit Humor verbunden, nicht wahr? Denn man kann niemanden lieben, wenn man ihn nicht so nimmt, wie er ist, nicht wahr? Und man kann sich nicht auf die Dauer mit jemandem vertragen, wenn man nicht auch über ihn lachen kann . Ist das nicht wahr? Und gewiss sind wir lächerliche kleine Wesen, die in ihren eigenen Aufschneidereien schwelgen, und Gott muss uns umso mehr lieben, weil wir seinem Humor zusagen."
"Ich habe Gott nie für besonders humorig gehalten" erwiderte Pater Stone.
"Den Schöpfer des Schnabeltiers, des Kamels, des Straußes und des Menschen? Also, ich bitte Sie!" Pater Peregrin lachte.

Ray Bradbury, Die Feuerballons in: Die Marschroniken. Roman in Erzählungen, Diogenes 2008.

Lesung bei Literaturraum Kirche
Wann: 28. Juni 2015 - 18:00 Uhr 
Wo: Evangelische Friedenskirche/Hirzbergstr.1 /79102 Freiburg


Mittwoch, 20. Mai 2015

Wie glücklich könnte man sein

Nochmal Huxley: "Schöne neue Welt"

Schade, dachte er, während er unterschrieb. Es war ein Meisterwerk. Aber wenn man erst einmal Erklärungen zum Thema der Zweckbestimmung zuließ - ja, dann waren die Folgen nicht absehbar. Solche Gedanken untergruben nur zu schnell die Normung der weniger gefestigten Geister innerhalb der höheren Kasten, sie raubten ihnen den Glauben an das Glück als das Höchste Gut und lehrten sie stattdessen den Glauben an ein Ziel, das irgendwo jenseits, irgendwo außerhalb des gegenwärtigen menschlichen Bereichs lag. Solche Irrlehren führten dahin, den Sinn des Daseins nicht in der Erhaltung des Wohlbefindens zu sehen, sondern in der Vertiefung und Verfeinerung der Erkenntnis, der Vermehrung des Wissens. Vielleicht, überlegte der Aufsichtsrat, sogar ein wahrer Glaube. Aber unter den derzeitgen Verhältnissen unzulässig. Er nahm noch einmal den Stift und zog unter die Worte "Zur Veröffentlichung nicht freigegeben" einen zweiten Strich, dicker, schwärzer noch als der erste. Dann seufte er. "Wie glücklich könnte man sein", sann er, "wenn man nicht an das Glück denken müsste!"   


Samstag, 9. Mai 2015

Fenster für die Seele

Kai Weyand erzählt in seinem zweiten Roman Applaus für Bronikowski von einem der auszog, dass Erwachsenwerden zu lernen. Weit kommt er nicht, aber gerade das macht Nies, abgeleitet von Dionysos, so angenehm. Kein Job, keine Freundin, keine großen Träume, nein, auch keine Krise, denn Nies ist einfach nur Nies. Er verweigert die großen Vorhaben von sich aus, aber auch ein wenig aus Protest. So gerät der Held ebenso absichtslos an einen Job im Bestattungsinstitut. Dort lernt er das Leben durch die Toten ein bisschen besser kennen.

Oft kamen NC die toten Körper, die er abholte, auf eigentümliche Art hilflos und bedürftig vor, wenn sie abgemagert, kraftlos und von Krankheit und Gewalteinwirkung gezeichnet vor ihm lagen. Und dann schien es ihm, als hörte er ihre Stimmen und sie baten ihn, sie nicht in diesem Zustand zu bestatten. Und tatsächlich meinte er, dass die Körper noch einmal an Kraft gewannen, wenn er sich ihnen zuwandte und sie versorgte. Es war kein letztes Aufbäumen, denn es gab ja nichts mehr zu kämpfen. Es schien ihm mehr ein letztes Leuchten vor dem endültigen Verglühen zu sein, wie ein Dankeschön oder wie ein Abschiedsgruß kam es ihm vor. Vielleicht an die Seele, dachte NC. 

Später heißt es: An der Decke hingen wie auf den Gängen große Neonröhren. NC schaltete das Licht an. Ein Fenster gab es nicht. Auch wenn die Seele kein Fenster braucht, um fortzufliegen, wäre es schön, sie würde eines vorfinden ...

Es gibt viele Gründe dafür, warum man dieses Buch lesen sollte: es ist klug, außergewöhnlich humorvoll und der Tod blickt einem während des Lesens irgendwie freundlich über die Schulter. Mir fiel Franz von Assisi ein, der den Tod bewußt Bruder Tod nannte.


Kai Weyand, Applaus für Bronikowsli, Wallstein Verlag 2015.
    

Donnerstag, 16. April 2015

Weltverjüngung

Er lebt 

Novalis

Ich sag es jedem, daß er lebt
und auferstanden ist,
daß er in unserer Mitte schwebt
und ewig bei uns ist.

Ich sag es jedem, jeder sagt
es seinen Freunden gleich,
daß bald an allen Orten tagt
das neue Himmelreich.

Er lebt und wird nun bei uns sein,
wenn alles uns verläßt!
Und so soll dieser Tag uns sein
ein Weltverjüngungsfest.

Samstag, 7. März 2015

Das Drama des ehrgeizigen Jüngers

Amos Oz: Judas

„Dies ist die Geschichte der Wintertage Ende des Jahres 1959, Anfang 1960. In dieser Geschichte gibt es Irrtum und Lust, es gibt enttäuschte Liebe, und es gibt so etwas wie die Frage nach Religiosität, die hier unbeantwortet bleibt. An manchen Häusern sind die Zeichen des Krieges noch zu erkennen...“ Mit diesen Worten beginnt Amos Oz seinen Roman Judas. Wir befinden uns demnach sofort im Programm der Bestseller: für jeden was dabei. Weiterhin wie erwartet: perfekter Aufbau, klar umrissene Helden mit kleinen Macken, durcherzählte Handlung, metaphernreiche Sprache, genügend Wiederholungen und der typische ausführlich erklärende Erzählstil. Das mag für jedermann leicht lesbar sein, für mich bedeutet es harte Arbeit. Doch ich bleibe dran, wegen Judas und dem, was A.O. mit ihm anstellen wird.

Zurück zur Handlung oder geht’s auch genauer? Der junge Held Schmuel Asch befindet sich (selbstverständlich) in einer Krise: Ende der bestehenden Beziehung, Abbruch des Studiums, Entfremdung in der Familie, Einsamkeit, Aufgabe der politischen Ambitionen, Rückzug aufs Land. Damit ist das Scheitern komplett, die Krise erreicht den Grad der Vollkommenheit.

Interessant ist nun, dass der Rückzug des jungen Mannes in das „abgeschlossene Haus“ Ataljas, die Schmuel als Gesellschafter für ihren Schwiegervater, den alten gehbehinderten Herrn Wild, anstellt, nicht das Ende seiner Studien bedeutet. Im Gegenteil. Schmuel wird durch die intellektuellen Gespräche mit Gerschom Wild und der geheimnisvollen Geschichten, die sich um Atalja, ihren im Krieg gefallenen Mann und ihren verstorbenen Vater Schealtiel Abrabanel ranken, inspiriert. Sein Thema: Jesus in den Augen der Juden bleibt sein Forschungsthema. Die Geschichte der Judasrezeption wird historisch-kritisch (für uns sogar chronologisch) erzählt, läuft parallel zur erzählten Geschichte des politischen Verräters Abrabanel. Und gipfelt schließlich in eine fiktive Rede des Verräters selbst. Diese Judasrede am Ende des Buches enthält einen Perspektivwechsel, denn der Leser lernt Judas von einer ganz anderen Seite kennen. So wird Judas erlöst von dem plumpen, geldgierigen, eifersüchtigen Charakterprofil, ebenso wie von dem kriegerischen, befreiungssüchtigen des Zeloten. Ist das neu? Auch in der christlichen Tradition gibt es Judas als Bruder des Herrn, ohne den es kein Erlösungsgeschehen gegeben hätte. Doch hier wird Judas (etwas überhöht) zum ersten Christen, ja zum einzigen Menschen, der an Jesus wahrhaftig geglaubt hat. Allein sein Glaube war es, der ihn zum Verräter werden ließ, denn Judas wollte mehr für seinen Herrn, Meister, Gott. Seiner Rede zufolge überredete er Jesus nach Jerusalem zu gehen, sich töten zu lassen, um mehr zu werden als ein Heiler und Endzeitprediger vom Lande. Jesus – von Judas als Gott erkannt – sollte gekreuzigt werden, jedoch ohne zu sterben. Als Judas den erbärmlichen Tod Jesu mitansehen muss, als er sieht, dass Jesus nicht triumphierend vom Kreuz herabsteigt, verzweifelt er und nimmt sich das Leben.

Amoz Oz ist Anhänger der Friedensbewegung und der Zwei-Staaten-Lösung, er hat seine Position gefunden. In seinem Roman schafft er vor allem eines: Verständnis für die Sicht des Anderen, den Anderen, den man Verräter nennt, weil er die Gruppe verlässt. Der Dialog zwischen den politischen Gegnern brach ab (Wild und Abrabanel schwiegen jahrelang) aber der Geschichtenerzähler erzählt uns diese Geschichte, damit wir verstehen, was damals geschah, was heute geschieht und indirekt auch: was heute geschehen sollte. Denn noch etwas wird deutlich: alle sind dort Verlorene, Trauernde, Kriegsopfer. Atalja, zuständig in Sachen Liebe, lässt sich auf Affären, doch nicht mehr auf die Liebe ein. Sie bleibt erstarrt, im Zustand der Trauer und Resignation. Und Schmuel Asch, der junge Mann, der seinen Bart ständig mit Babypuder pflegt, der unsicher und tollpatschig ist, wird wenigstens er ein neues Leben beginnen können? Ist er entwicklungsfähig? Ist das überhaupt das Thema?

Dieses Buch wird von sehr vielen Menschen gelesen werden, es wird bilden, aufklären, unterhalten. Die Übersetzung durch Mirjam Pressler wurde mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet. In einem Interview auf der Leipziger Buchmesse sagte Amos Oz, dass er das Buch auch geschrieben hätte, weil auch er oft als Verräter gebrandmarkt worden wäre. Er sieht den "Verräter" aber als jemanden, der auch positive Eigenschaften hat, ja eine positive Funktion hat, denn er möchte Veränderungen hervorrufen; er hält die Erstarrung einer Gruppe nicht aus. Diese Sätze haben mich sehr berührt.

Weitere Informationen auf der Suhrkamp-Verlagsseite

Amos Oz, Judas, Roman Suhrkamp, 2015.



Mittwoch, 4. Februar 2015

Aus der Normzentrale

Schöne neue Welt

Im Geographiesaal erfuhr Michel, daß "eine Wildreservation eine Gegend ist, die wegen ungünstiger klimatischer oder geologischer Verhältnisse oder der Armut an Bodenschätzen die Kosten der Zivilisierung nicht lohnt". Ein Klicken, das Schulzimmer verdunkelte sich, und auf der Leinwand über dem Kopf des Lehrers erschienen plötzlich die Büßer von Acoma, die sich vor Unserer Lieben Frau niederwarfen, winselnd, wie Michel selbst sie winseln gehört hatte, und die vor Jesus am Kreuz und dem Adlerbild Pukongs ihre Sünden bekannten. Die Schüler brüllten vor Lachen bei diesem Anblick. Noch immer winselnd erhoben sich die Büßer, warfen ihre Hemden ab und begannen, sich mit geknoteten Geißeln zu schlagen. Das Gelächter wurde noch einmal so laut und übertönte sogar die verstärkte Wiedergabe ihres Ächzens und Stöhnens. "Warum lachen sie?" fragte der Wilde betroffen. "Warum?" Breit grinsend wandte sich der Schulleiter ihm zu. "Warum? Weil das unerhört komisch ist."     

aus: Aldous Huxley, Schöne neue Welt, 1953, Fischer Taschenbuch (OT Brave new Wold).

Schöne neue Welt spielt im Jahre 632 "nach Ford" in einer Wohlstandsgesellschaft, die an die Stelle Gottes und der Religion die Idee von Massenproduktion -und Konsum stellt. "Gemeinschaftlichkeit", "Einheitlichkeit" und "Beständigkeit" lautet die Parole. Sport, Sex, die Soma-Drogen und ein grausames Erziehungssystem der Flaschenkinder, die nicht mehr geboren, sondern nur noch entkorkt werden, lassen den Kastenmenschen zurück in einer infantilen Gefühlswelt. Drei Außenseiter treffen aufeinander und suchen einen Weg aus der vorprogrammierten Welt.

Aldous Huxley (1894-1963) arbeitete als Journalist und Kunstkritiker. Von der buddhistischen Lehre beeinflusst entwickelte er sich nach dem Ersten Weltkrieg vom amüsiert beobachtenden Satiriker zum leidenschaftlichen Reformator, der die Welt durch eine universale mystische Religion zu heilen versuchte.    

Donnerstag, 15. Januar 2015

Nicht Feindschaft, sondern Brüderlichkeit!

Die Rede von Navid Kermani: Wir wehren uns!

Danke an Navid Kermani, dessen eindringliche Rede aufräumt und Zeichen setzt. Aus aktuellem Anlass nehme ich diese Rede des Schriftstellers und Islamwissenschaftlers hier auf. Es genügt nicht, einfach in eine andere Richtung zu schauen. Man muss gemeinsam in eine menschliche Richtung gehen können. Die Erinnerung Navid Kermanis an das höchste Gebot des Islam sei hier hervorgehoben: BARMGERZIGKEIT.

Sure 5,28 
Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, 
so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen.


Dienstag, 13. Januar 2015

Die Antwort ist die Frage


Dschalal ad-Din Rumi



Ich bin nicht ich. Mein wahres Ich -

Wer mag es sein?

Der da aus meinem Munde spricht -

Wer mag es sein?

Bin bloß Gefäß von Kopf bis Fuß, nicht mehr.

Der, dem ich diesen Dienst verricht -

Wer mag es sein?  


Rumi ist ein bedeutender Dichter der persisch-islamischen Mystik und Begründer des Ordens der tanzenden Derwische. Er wurde am 30.9.1207 in Balch im heutigen Afghanistan geboren. 

"Die Lehre Maulanas (Rumis) basierte darauf, dass er die Liebe als die Hauptkraft des Universums ansah. Genauer gesagt ist das Universum ein Harmonisches Ganzes, in dem jeder Teil mit allen anderen in einer Liebes-Beziehung steht, die wiederum einzig und allein auf Gott gerichtet ist und nur durch seine Liebe überhaupt Bestand haben kann.Der Mensch, der als ein Teil dieses harmonischen Ganzen geschaffen ist, kann die Harmonie mit sich selbst und dem Universum nur erreichen, wenn er lernt, Gott zu lieben. Seine Liebe zu Gott wird ihn dazu befähigen, nicht nur seine Mitmenschen, sondern alles von Gott Geschaffene lieben zu können.", sagt Wiki.