Johannes Tauler (1300-1361 in Straßburg) forderte seine Brüder und Schwestern auf, mehr Mut zur Mystik zu entwickeln. Ist Mystik nicht etwas für Feiglinge? Nabelschau und Lehre der Hinterweltler? Ich denke, die Mystik benötigt noch heute Mut, Mut zum inwendig starken Glauben, einem Glauben der Friedfertigkeit und Liebe. Bei Tauler kann man den Ernst und die Wahrhaftigkeit seiner Reden beinahe hören, in jedem Fall aber hier lesen:
Corpus mysticum heißt: ein göttlicher Leib, dessen Haupt Christus ist. Dieser Körper besitzt viele Glieder. Das eine ist das Auge: es sieht den ganzen Leib, aber nicht sich selbst: ein anderes ist der Mund: er ißt und trinkt alles für den Leib und nicht für sich selbst: ebenso ist es mit der Hand, dem Fuß und so vielen verschiedenartigen Gliedern. Und jedes hat seine besondere Arbeit, und dies alles gehört zum Leibe und unter das eine Haupt. So ist denn unter der ganzen Christenheit kein Werk und sei es noch so gering und klein, wie etwa das Geläut der Glocken oder der Schein der Kerzen, das nicht zur Vollendung des inneren Werkes diene.
Ihr Lieben, in diesem mystischen Leibe soll eine ebenso große Einträchtigkeit herrschen, wie ihr sie unter euren eigenen Gliedern herrschen seht: es soll kein Glied, als wenn es nur für sich selber da wäre, den anderen ein Leid oder eine Bedrängnis zufügen: es muß alle gleich sich selbst achten: alle müssen für jeden einzelnen, ein jeder für alle dasein.
Und sollten wir in diesem mystischen Leibe ein Glied kennen, edler als wir uns selbst wissen, so sollten wir es mehr schätzen als uns selbst.
aus: Emmanuel Jungclaussen, In den Spuren der Meister, Herder Verlag