Montag, 15. September 2014

Bitte nie um Liebe


Jennifer Clement: Gebete für die Vermissten

Ladydi ist fünfzehn und die Welt, von der sie uns erzählt, erinnert den europäischen Leser womöglich an albtraumhafte Horrorszenarien oder gar Science-Fiction: Frauen, die ihr Leben völlig schutzlos in vergessenen Bergdörfern fristen, die vergeblich versuchen ihre Töchtersöhne vor den ständigen Invasionen der Gewalt zu retten. Ein Überleben im Versteck, ein Leben im Ausnahmezustand und doch ist der Horror Realität, keine Zukunftsvision.
Man hat schon von mexikanischen Drogen- und Mädchenhandel gehört, aber hier folgen wir einer Beschreibung, die unter die Haut geht.
Ladydi, ein als Junge verkleidetes Mädchen, lebt mit ihrer Mutter allein. Ihre Mutter ist eine verlassene Ehefrau wie die meisten Frauen des Dorfes, denn die Männer versuchen ihr Glück in den Städten oder sind längst ausgewandert. Die beiden sind absolut schutz- , aber nicht wehrlos. Das ist es, was dem Roman die eigentliche Erzählspannung gibt, die sehr speziellen Formen des Widerstands dieser Frauen. Zunächst einmal träumt Ladydi von einem anderen Leben und ihre Mutter trinkt, aber dabei kann es durch das, was den beiden zustößt nicht bleiben. Da die lauernde und immer wieder ausbrechende Gewalt eher Naturereignissen gleicht mit denen man sich irgendwie arrangieren muss, könnten sie um die Hilfe eines allmächtigen Gottes bitten. Verspricht das nicht der Titel? Aber scheinbar ist ihnen selbst diese letzte Möglichkeit verwehrt. Die Mutter lehrt ihre Tochter vor allem eines: Bitte nie um Liebe oder Gesundheit... Oder Geld. Wenn Gott hört, was du willst, gibt er es dir nicht. Garantiert. Und so bittet Ladydi um Wolken und Pyjamas und Glühbirnen und als der Vater und Ehemann die beiden verlässt, bitten sie gemeinsam um Löffel. Eine absurde Welt fordert ihr Recht.

Auch Paula, die beste Freundin Ladydis wird eines Tages entführt, verschwindet und das Leben im Ausnahmezustand geht weiter. Normalerweise tauchen entführte Mädchen nicht wieder auf. Doch Paula kommt zurück. Verstummt. Ein Geheimnis umgibt sie. Der Cousin Ladydis, ein hübscher Dummkopf und bald auch Dealer, versucht es zu enträtseln. Wenn es keinen gnädigen Gott gibt, dann setzt man auf Rache. Auch die Mutter Ladydis sagte, sie glaube an Rache. Und dieser Härte sieht sich selbst die Tochter ausgesetzt. Ich wusste, sie würde mir nichts verzeihen, gleichzeitig lernte ich selbst auch, nicht zu verzeihen. Deshalb ging sie auch nicht mehr in die Kirche, sagte sie, obwohl sie manche Heilige verehrte, aber dieses ganze Vergebungstheater gefiel ihr nicht. Ich weiß, dass sie einen Großteil des Tages darüber nachdachte, was sie mit meinem Vater anstellen würde, falls er je zurückkäme. Damit werden alle zur potentiellen Bedrohung, alle und alles wird in einen Strudel krimineller Energie gezogen. Diese brutale Welt des Misstrauens und der Sucht nach Vergeltung ist die Hölle. Welche Chance hätte da ein fünzehnjähriges Mädchen. Welche Möglichkeiten gibt es denn, sich so einer Welt überhaupt zu entziehen?    

Der Leser dieses Romans wird völlig in den Sog der Handlung, aber auch der wirklich gelungenen Dialoge und Gedankenläufe gezogen und taucht erst am Ende atemholend wieder auf. Ich werde hier nicht alles erzählen, den Inhalt jedes Kapitels nacherzählen, um Ihnen diese Spannung zu ersparen. Ich werde Ihnen aber empfehlen, in dieses Buch ein- und abzutauchen.  

Jennifer Clement, Gebete für die Vermissten, Suhrkamp Verlag 2014

Jennifer Clement, 1960 in Connecticut geboren, wuchs in Mexiko-Stadt auf, studierte in New York und Paris Literaturwissenschaft und hat Lyrik und zwei Romane veröffentlicht. Für Gebete für die Vermissten recherchierte sie über zehn Jahre lang in der mexikanischen Provinz und führte Hunderte Interviews mit vom Drogenkrieg betroffenen Mädchen und Frauen.

Situation in Mexiko (der Buchseite des Verlages entnommen): 
  • Regierungsorganisationen schätzen die Zahl der Entführungen im Jahr 2012 auf 105.682.
  • Es gibt 31 % mehr Entführungsfälle als im Jahr zuvor.
  • 2013 wurden nur 1.446 Entführungen zur Anzeige gebracht.
  • Auf Entführung folgt: Zwangsarbeit, Sexhandel, Pornografie.