Sonntag, 22. Juni 2014

Höflichkeitskatechismus

Der gute alte Goethe soll wieder schuld sein, und zwar diesmal daran, dass Balzac im deutschen Sprachraum ein bekannter Unbekannter ist (vgl. Willms, Balzac Biographie, die mich auf einer sehr schönen Südfrankreich-Reise gut unterhalten hat.) Aber selbst wenn es so wäre - und wir sogar einen Sündenbock haben - muss dies ja nicht für immer gelten. 
Um sogleich mit gutem Beispiel voran zu eilen, folgen nun Sätze des Meisters: Mademoiselle Cormon sah es als eine ihrer Pflichten an, zu reden; nicht daß sie schwatzhaft gewesen wäre, sie war unglücklicherweise zu beschränkt und kannte zuwenig Redensarten, um ein Gespräch führen zu können; aber sie glaubte damit eine von der Religion vorgeschriebene soziale Pflicht zu erfüllen, die uns auferlegt, sich seinen Mitmenschen angenehm zu machen. Diese Verpflichtung kostete sie soviel Anstrengung, daß sie über diesen Punkt des Höflichkeitskatechismus ihren religiösen Beistand, den Abbé Couturier, befragt hatte. Trotz der bescheidenen Bemerkung seines Beichtkindes, daß sich ihr Geist, um etwas Unterhaltendes zu finden, einer schweren inneren Arbeit unterziehen müsse, las ihr der alte Priester, der in Fragen des Verhaltens unerschütterlich war, eine ganze Passage aus dem heiligen Franz von Sales über die Pflichten der Frau der Gesellschaft vor, über die wohlanständige Heiterkeit frommer Christinnen, die sich ihre Strenge für sich selbst aufsparen und sich in ihrem Hause liebenswürdig zeigen sollten, so daß sich ihre Mitmenschen nicht bei ihnen langweilen. Da sie nun ihrem Beichtvater, der ihr das Plaudern zur Pflicht gemacht hatte, um jeden Preis gehorchen wollte, so geriet die Arme in ihrem Korsett in Schweiß, wenn die Unterhaltung erschlaffte, so schwer wurde ihr der Versuch, ihre Gedanken auszudrücken, um die ermatteten Gespräche wieder zu beleben. Sie gab dann seltsame Satzgebilde zum besten, etwa wie das folgende: "Niemand kann an zwei Stellen zugleich sein, wenn er nicht ein Vögelchen ist". 

Balzac, Die alte Jungfer, Insel Taschenbuch, S. 85.