Verstehen wir immer mehr oder immer weniger? Früher liebte ich Meister Eckhart gerade wegen seiner intellektuellen Art, seine Mystik ging die meisten Wege Seite an Seite mit der Vernunft. Er benötigte keine Visionen, er erklärte uns den Gang der Seele. Wenn ich ihn jetzt wieder lese, finde ich ihn beinahe schwierig. Aber lest selbst. Ich zitiere einen Abschnitt aus der Predigt "Über die Armut an Geist". Es geht dort um drei zu erlangende Stufen: nichts wollen, nichts wissen und nichts haben. Nichts wollen? Wenn man diesen Zustand nur einmal am Tag erlangen könnte, für wenige Sekunden, dann wäre man in diesen Sekunden doch glücklich.
Erstens also behaupten wir, ein armer Mensch sei der, der nichts
will. Diesen Satz verstehen einige Leute nicht richtig. Es sind die
Leute, die sich in ihrem Selbstbezug an Bußwerke und äußere Übungen
halten. Sie finden, das sei etwas Großes. Mir tun diese Menschen leid.
Denn sie begreifen so wenig von der göttlichen Wahrheit. Dem äußeren
Anschein folgend, nennen viele Leute sie „heilig”. Aber sie sind Esel.
Innen sind sie Esel, denn sie begreifen nicht das Besondere der
göttlichen Wahrheit. Auch diese Menschen behaupten, ein armer Mensch
sei, wer nichts will. Sie erklären das aber so: Der Mensch soll so
leben, dass er nirgends seinen eigenen Willen erfüllt, sondern immer nur
danach strebe, wie er den liebsten Willen Gottes erfülle. Um diese
Menschen steht es gut, denn ihre Absicht ist gut, deshalb wollen wir sie
loben.
Gott gebe ihnen in seiner Barmherzigkeit das Himmelreich. Ich
gehe aber noch weiter und behaupte bei der göttlichen Wahrheit: Diese
Menschen sind nicht arm, und sie gleichen auch nicht armen Menschen.
Leute, die nichts Besseres kennen, achten sie hoch. Aber ich behaupte:
Sie sind Esel; von der Wahrheit begreifen sie nichts. Weil sie es gut
meinen, werden sie das Himmelreich erlangen, aber von der Armut, von der
wir nun reden wollen, verstehen sie gar nichts.
Käme nun einer und fragte mich: Was wäre denn ein armer Mensch,
der nichts will?, so antworte ich ihm und argumentiere wie folgt:
Solange der Mensch daran festhält, es sei sein Wille, den liebsten
Willen Gottes erfüllen zu wollen, so lange hat er die Armut nicht, von
der wir reden wollen. Denn dieser Mensch besitzt immer noch einen
Willen, mit dem er dem Willen Gottes entsprechen will, und das ist nicht
die wahre Armut. Denn der Mensch, der die wirkliche Armut hat, der ist
völlig abgelöst von seinem geschaffenen Willen, so wie damals, als er
noch nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr
den Willen besitzt, den Willen Gottes zu erfüllen und solange ihr
Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, so lange seid ihr nicht
arm. Denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts
verlangt.
Als ich in meinem ersten Ursprung stand, da hatte ich keinen
Gott, und da war ich Ursprung meiner selbst. Da wollte ich nichts. Dort
verlangte ich nach nichts, denn ich war abgelöst von ihm und ein
Erkennender meiner selbst im Genuss der Wahrheit. Da wollte ich mich
selbst und sonst nichts. Was ich wollte, das war ich. Was ich war, das
wollte ich. Und hier stand ich, abgelöst von Gott und allen Dingen. Aber
als ich dann heraustrat aus meinem freien Willen und mein geschaffenes
Wesen entgegennahm, da bekam ich einen Gott. Denn bevor die Geschöpfe
waren, da war Gott nicht Gott, vielmehr war er, was er war. Aber als die
Geschöpfe entstanden und ihr geschaffenes Wesen empfingen, da war Gott
nicht mehr Gott in sich selbst, sondern er war Gott in den Geschöpfen.
Nun behaupte ich: Gott, sofern er Gott ist, ist nicht das
vollkommene Wesensziel der Geschöpfe. Dazu ist der Reichtum zu groß, den
das geringste Geschöpf in Gott hat. Hätte eine Mücke Vernunft und
suchte sie mit Vernunft den ewigen Abgrund des göttlichen Wesens, aus
dem sie gekommen ist, so könnte Gott, behaupte ich, mit all dem, worin
er Gott ist, die Mücke nicht ausfüllen und ihr Genüge verschaffen.
Deswegen bitte ich Gott, losgelöst zu werden von Gott und die Wahrheit
dort zu ergreifen und die Ewigkeit dort zu genießen, wo die obersten
Engel und die Mücke und die Seele gleich sind worin ich stand und
wollte, was ich war und war, was ich wollte. Deshalb behaupte ich: Soll
der Mensch arm sein an Willen, dann darf er so wenig wollen und
verlangen, als er wollte und verlangte, als er nicht war. Und in diesem
Sinne ist der Mensch arm, der nichts will.