Vor einiger Zeit gelesen: Charlotte Bronte, Shirley (1849)
Daraus eine Kostprobe:
Caroline war Christin, deshalb suchte sie bei seelischen Nöten ihre Zuflucht im Gebet, flehte um Geduld, Stärke, Linderung. Diese Welt aber, das wissen wir alle, ist ein Ort der Heimsuchung, und selbst wenn ihre Bitten vielleicht schon erhöhrt worden waren, schien es ihr, als ob sie ungehört verhallt wären. Manchmal glaubte sie, Gott habe sein Angesicht von ihr abgewendet, und in manchen Augenblicken wähnte sie sich von ihm verworfen und stürzte in Abgünde der Verzweiflung. Die meisten Menschen haben wohl in ihrem Leben einmal einen solchen Anfall von Verzweflung gehabt, nachdem sie sich lange und aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz an eine Hoffnung geklammert hatten, ohne den Tag ihrer Erfüllung zu erleben....
Aber mögen doch alle, die da Leid tragen, festhalten an der Liebe und am Vertrauen zu Gott. Er wird sie niemals verlassen, noch sich endültig von ihnen wenden.
Und da bricht mein Zitat ab, aber der Erzählstrom und Carlotte Brontes Lust aus der Bibel zu zitieren bricht nicht ab. Ich wollte es uns Heutigen nicht zumuten, habe es mir aber anders überlegt. Ja, ja ja, die Wahrheit ist zumutbar!!! Damit sollten zumindest die Künstler und Schriftsteller leben können! Ich fahre also fort: "Denn welchen der Herr liebhat, den züchtigt er". Diese Worte sind wahr und man sollte sie nicht vergessen. Uns klingen diese Bibelverse schnell etwas zynisch, meist zu schnell. Denn der Versuch, sich das Leiden zu erklären, Scheitern zu ertragen, Sterblichkeit und Krankheit zu dulden, steckt darin. Und zwar, ohne sich von Gott lösen zu müssen.
Charlotte Bronte (1816-1855) war eine Kämpfernatur, doch sie hat viel Leid ertragen müssen. Sie war die älteste von drei Schwestern, arbeitete u.a. als Lehrerin und Gouvernante, nachdem sie in Brüssel an einer Privatschule studiert hatte. In ihren Romanen Der Professsor und Vilette verarbetet sie Erlebnisse aus dieser Zeit. Der bekannteste ihrer Romane ist Jane Eyre.
aus: Charlotte Bronte, Shirley, Insel Verlag 2016.