Sonntag, 29. Dezember 2013

Mit der Freude...


Johann Peter Hebel

Neujahrslied

Mit der Freude zieht der Schmerz
Traulich durch die Zeiten,
Schwere Stürme, milde Weste,
Bange Sorgen, frohe Feste
Wandeln sich zur Seiten.

Und wo eine Träne fällt,
Blüht auch eine Rose.
Schön gemischt, noch eh wir’s bitten,
Ist für Thronen und für Hütten
Schmerz und Lust im Lose.
War’s nicht so im alten Jahr?
Wird’s im neuen enden?
Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken gehn und kommen wieder,
Und kein Wunsch wird’s wenden.
Gebe denn, der über uns
Wägt mit rechter Waage,
Jedem Sinn für seine Freuden,
Jedem Mut für seine Leiden
In die neuen Tage,
Jedem auf des Lebens Pfad
Einen Freund zur Seite,
Ein zufriedenes Gemüte,
Und zu stiller Herzensgüte
Hoffnung ins Geleite!
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Johann Peter Hebel, am 10.5.1760 in Basel geboren, 22.9.1826 in Schwetzingen gestorben, Theologe und Lehrer, gilt bis heute als der bedeutendste alemannische Dichter. Weit bekannt sind auch seine Kalendergeschichten. Erschienen im Klöpfer&Meyer Verlag, Tübingen.

Samstag, 21. Dezember 2013

Und so leuchtet die Welt

Lied im Advent

Immer ein Lichtlein mehr
im Kranz, den wir gewunden,
dass er leuchte uns sehr
durch die dunklen Stunden.

Zwei und drei und dann vier !
Rund um den Kranz welch ein Schimmer,
und so leuchten auch wir,
und so leuchtet das Zimmer.

Und so leuchtet die Welt
langsam der Weihnacht entgegen.
Und der in Händen sie hält,
weiß um den Segen !

Matthias Claudius (1740 - 1815)

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Schweizer Märchen



Die Erlösung

Ein Jäger schritt durch einen dunkeln Wald und geriet unversehens so tief in das Dickicht hinein, dass er nicht mehr wusste, ob es Tag- oder Nachtzeit war. Da sah er eine bleiche Nebelgestalt daher kommen, die winkte ihm und streckte ihm ihre weisse Hand entgegen. Erst war der Jäger erschrocken und meinte nichts anderes, als dass es ihm an das Leben gehen müsste. Aber bald fasste er wieder Mut, und es war ihm, als dürfe er die dargebotene Hand nicht zurückweisen. Wie er also keck die zarte Hand ergriff, war es wie wenn er lauter Eiszapfen anrührte, und im gleichen Augenblick standen die Bäume ringsumher in Feuer; Schlangen zischten auf, und das Geheul der Wölfe und anderer reissender Tiere erschallte ganz in der Nähe.
Aber der Jäger hielt nur umso kräftiger die kalte Hand fest und wankte um keinen Schritt von der Stelle. Bald war es auch wieder stille und dunkel wie vorher. Da kam ein graues Männlein und winkte dem Jäger auf die Seite; es trug an seinem Arm ein Körbchen, das von hellem Diamant und bis zu oberst mit glitzerndem Gold angefüllt war; das gab zusammen einen so hellen Schein wie die Sonne. Aber der Jäger hielt noch immer die Hand fest und blieb unbeweglich stehen. Da sprang plötzlich ein Wolf vorbei, der hatte ein Kind im Rachen, das der Jäger mit Schrecken als seins erkannte.
Aber er lief ihm nicht nach, denn es war ihm, als täte er eine rechte Sünde, wenn er die Hand fahren liesse. Als nun der Wolf verschwunden war, da wurde die kalte Hand mit einemmal warm und lebendig und in der bleichen Gestalt erblickte der Jäger eine liebliche Jungfrau. Die lächelte ihn an und sprach: »Du hast mich aus einem schweren Bann erlöst, und weil du so treulich hast ausgehalten, so sollst du belohnt werden.« Sie reichte ihm ein Körbchen, und das war das Nämliche, womit ihn das graue Männchen hatte verführen wollen. Das leuchtete dem Jäger aus dem finstern Wald heraus, und von da an war er ein reicher Mann und lebte glücklich und vergnügt bis an sein Ende.

aus: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, gesammelt von Otto Sutermeister, neu bearbeitet von Fritz Gafner, Friedrich Reinhard Verlag Basel. 

Freitag, 6. Dezember 2013

Großes Owe

Walther von der Vogelweide

WEHE, es wird sich ein Sturm erheben... 


WEHE, warum haben wir sterblichen Menschen uns zwischen Freuden ins Elend gesetzt! Alle Mühsal hatten wir vergessen, als uns der Sommer zu sich lud. Der brachte uns vergängliche Blumen und Laub; uns täuschte das ebenso vergängliche Lied der Vögel.
Wohl dem, der sich stets um beständige Freuden mühte!

WEHE DES LIEDES, das wir mit den Grillen sangen, derweilen wir uns auf die Winterzeit hätten vorbereiten sollen. Ach, wir einfältigen Narren, weshalb traten wir nicht mit der Ameise in Wettstreit, die jetzt höchst zufrieden neben dem liegt, was sie sich erarbeitet hat. Seit je hat die Menschheit am meisten darunter gelitten, daß die Toren immer den Rat der Weisen schmähten. Erst im Jenseits erkennt man, wer hier auf Erden gelogen hat.