Normalerweise lasse ich mich nicht von großen epischen Familiendramen, selbstverständlich über mehrere Generationen reichende, sechshundert Seiten lange, auserzählte, detailverliebte, rauschaft erzählte und zu lesende etc. einfangen, aber Kaiser-Mühlecker hat es doch geschafft.
"Roter Flieder" ist ein Meisterwerk, das uns nicht nur in den Kosmos einer Familie eintauchen lässt, sondern uns zudem über sechshundert Seiten lang eine Frage auferlegt: vererbt sich Schuld. Denn der NS Ortsgruppenführer Goldberger hat Schuld auf sich geladen und andere haben ihn dafür verflucht. Aber hat ihn auch Gott verflucht? Straft Gott bis ins siebte Glied oder ist das inzwischen alter Aberglaube, überflüssige Rede vom zornigen Gott, die längst abgelöst worden ist vom Glauben an den gnädigen. Oft genug erinnerte ich mich an die Bibelstelle beim Propheten Hesekiel: "Was habt ihr unter euch im Lande für ein Sprichwort: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden". So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel." (Hes 18,2)
Auch er (Paul Goldberger) glaubte an manches, was nicht durch Vernunft oder Erfahrung zu erklären war. Und eigentlich waren es sogar diese Dinge, die die wichtigsten, bestimmenden in seinem Leben waren. Doch für Phänomene, die man im Grunde problemlos erklären konnte, wenn man sich nur ein wenig anstrengte, eine übernatürliche Erklärung heranzuziehen, verabscheute er. Es war nicht Dummheit; es war Wissenwollen, ohne bereit zu sein zu lernen: Es war Faulheit.
Reinhard Kaiser-Mühlecker, Roter Flieder, Fischer Verlag 2014, S. 503.