Montag, 28. März 2016

Muntermacher Kuhlmann

Seit fünfundzwanzig Jahren begleitet mich der warmherzige, verrückte, begeisterte, geistreiche, überfromme, langmütige, sanfte und doch auch kämpferische Quirinus Kuhlmann (1651-1689) auf meiner kurzen Pilgerreise durchs Leben. Gestern nahm ich ihn nach einem feierlichen Ostergottesdienst wieder zur Hand und las mich fest. Er war Poet und Mystiker und eigentlich auch Märtyrer, denn er wurde schließlich bei einer seiner Missionsreisen in Moskau verbrannt (denunziert von einem Lutheraner). Wenn uns die Welt mit ihren aktuellen Nachrichten und die Menschen, die darin toben, wieder einmal zum Rätsel werden, dann sprechen uns vielleicht gerade die Barockgedichte an. Deshalb hier ein Auszug aus dem Kühlpsalter 5 (80) Dritter Teil: 

Verschling den Tod in unser Hoellenfarth!
Entkerker ernst, vvas eingekerkert vvard!
Stos ab vom Stuhl den Drach in seinem haus:
Befessel ihn im selbstgewekktem graus.
Entreis in uns dem Cherub schvverdt und thor:
Es komm im Sig di Bundeslin empor!
Den andern sei stat unruh ruh geschenkt!
Auf predige den Geistern, di bekraenkt!
Auf, loes uns auf vom Schlaf und der Natur!
Auf, auf! Auf, auf! Es schallt di letzte uhr.   

Steh auf, steh auf! Erschrekk der Hütter schaar!
Steh auf in uns! Hinweg ist di gefahr!
Der Tod ist todt! Das Grab des Grabs ist da!
Triumf, Triumf! Triumf! Halleluja! 
Dein Engel bring die Auferstehungs-post!
Ich schmeck in dir, du mir die neue kost!
Auf, sigle auf dreieinig alle ding!
Versigle mich mit deines Geistes Ring.
Du hast in mir mich ewigst dir vertraut.
Du bleibest mein; ich bleibe deine Braut.

Freitag, 25. März 2016

Karfreitagsgebet

Hildegard von Bingen

Schmerzliche Pilgerschaft

Ich irre umher im Schatten des Todes
als Pilger im fremden Land;
mein Trost ist das Ziel der Wanderschaft

Gefährtin der Engel sollte ich sein,
dein lebendiger Hauch, o Gott, im Lehm.
Müßt ich dich nicht erkennen und spüren?

Weh mir, mein Zelt hat nach Norden 
das Auge des Leibes gerichtet!
Gefangen wurde ich dort und -ach!
des Lichtes beraubt und der Freude am Wissen,
mein ganzes Gewand ward zerissen !
Aus meinem Erbe vertrieben
führte man mich in die Knechtschaft

Wo bin ich, wie kam ich hierher?
Wer tröstet mich in der Gefangenschaft?
Wie kann ich diese Ketten zerreißen?
Wer schaut wohl nach meinen Wunden,
wer salbt sie mit Öl und erbarmt sich?

O Himmel, erhöre mein Rufen,
du Erde bebe vor Trauer mit mir!
Ein Fremdling bin ich ohn' Trost und Hilfe. 

Donnerstag, 17. März 2016

Stundenbuch

Rainer Maria Rilke

Erstes Buch

Das Buch vom mönchischen Leben (1899)


Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann –
und ich fasse den plastischen Tag.
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.
Nichts ist mir zu klein und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß,
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...


Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.




Dienstag, 8. März 2016

Requiem aeternam deo

Friedrich Nietzsche - Der tolle Mensch

Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: "Ich suche Gott! Ich suche Gott!"
Da dort gerade viele von denen zusammen-standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? 

Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? - so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. "Wohin ist Gott?" rief er, "ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?
Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?

Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet - 
wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat - und wer nun immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. "Ich komme zu früh", sagte er dann, "ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert - es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne - und doch haben sie dieselbe getan!" - Man erzählt noch, dass der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedenen Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: "Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Gräber und die Grabmäler Gottes sind?"



aus: Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft.

p.s. ich liebe diesen Text. Er hat trotz der Zweifel, die er klar ausspricht, meinem Glauben nie geschadet. Im Gegenteil.